Schwarze Sekunden: Roman (German Edition)
Kindern fühlen sie sich nicht so bedroht. Das kommt vor.«
Dazu hatte sie nichts zu sagen. Sie zog es vor zu schweigen. Ihr ging auf, daß Schweigen seine Wirkung tat. Und das hatte auch Emil begriffen.
»Ihr Sohn hat einen Vogel?« fragte er, um das Thema zu wechseln.
»Ja. Einen Papagei.«
»Haben Sie den Eindruck, daß ihm das Freude macht?«
Dieses Thema kam ihr ungefährlich vor, und sie erlaubte sich eine Antwort.
»Das hoffe ich doch«, sagte sie. »Der pfeift und singt sehr gern und leistet ihm sicher Gesellschaft. Und die Pflege kann Emil bewältigen.«
»Als ich Sie zuletzt gefragt habe, haben Sie behauptet, überhaupt keinen Vogelbesitzer zu kennen. Wissen Sie das noch?«
»Ja«, sagte sie und biß sich in die Lippe.
»Warum haben Sie gelogen?«
»Weiß nicht«, sagte sie trotzig.
»Na gut.« Sejer lächelte. »Ein Schmusetier ist er jedenfalls nicht. Einer meiner Kollegen hat jetzt ein gewaltiges Loch im Finger.«
Sie hörte zu, gestattete sich aber kein Lächeln.
»Der ist einfach nie zahm geworden«, erklärte sie dann.
»Warum nicht?«
»Weiß nicht. Ich hab keine Ahnung von Vögeln. Er war zehn, als ich ihn gekauft habe. Inzwischen ist er fast sechzehn.«
Sie sah jetzt aus, als wolle sie davonlaufen. Ihr ganzer Leib vibrierte. Sie wollte nicht antworten, aber er war ihr sympathisch. Das verwirrte sie. Sie sprach nicht oft mit Männern. Nur mit Margot von nebenan und den Frauen aus dem Nähkränzchen. Überall, wo sie hinkam, waren nur Frauen. Jetzt hörte sie dieser tiefen Stimme zu, einer überaus sachlichen und sehr korrekten Stimme, die das Zuhören angenehm machte.
»Es ist sonst so schrecklich still um ihn«, sagte sie. »Er hat doch nie Besuch. Im Laden hieß es, der Vogel könne sprechen. Ich dachte, es würde ihm guttun, ab und zu ein Wort zu hören. Und ihn selbst zum Reden bringen.«
»Was sagt der Vogel?« fragte Sejer neugierig.
»Ach«, erwiderte sie und zuckte mit den Schultern. »Hallo. Huhu. Guten Morgen, so was. Vor allem kann er Melodien pfeifen. Die schnappt er aus Radio und Fernsehen auf. Aus der Reklame und so.«
Sie starrte auf die Tischplatte. Aus dem Augenwinkel heraus sah sie die Wasserflasche. Die war von außen beschlagen.
»Ich weiß ja nicht, wie lange Sie uns hier festhalten wollen«, sagte sie. »Aber der Vogel braucht Futter und Wasser.«
Sejer nickte verständnisvoll.
»Wir werden für den Vogel sorgen, falls sich das als notwendig erweisen sollte.«
Er wußte, daß er Elsa Mork zum Reden bringen würde. Wußte, daß er ihr überlegen war. Und dieser Gedanke stimmte ihn traurig. Denn gerade jetzt fühlte sie sich stark. Sie hatte beschlossen, nichts zu sagen. Sie wußte nicht, wieviel er wußte. Sie konnte sich keine Lüge ausdenken, denn sie wußte nicht, welche Karten er in der Hand hielt. Und er hatte viele. Idas Brieftasche, die sie in Emils Küchenschrank in einer Packung Knäckebrot gefunden hatten. Vielleicht hatte gerade diese Brieftasche Emil so gut gefallen, und Elsa hatte sie beim Aufräumen übersehen. Dann hatte er selbst ein Versteck gefunden. Im Keller stand eine alte Tiefkühltruhe. Mehrere dunkle Haare, die darin gelegen hatten, waren jetzt im Labor zur Analyse. Elsa hatte nicht an alles gedacht, das schaffte kaum jemand. Jetzt wartete sie ruhig im Sessel, fest entschlossen, eine Runde nach der anderen zu spielen, Schmerzen zu ertragen und neue Antworten zu finden. Nach einer Weile, nach einigen Stunden oder Tagen, würde sie müde sein. Sie war eine kluge Frau. Wenn sie einsah, daß sie verloren hatte, würde sie sich ergeben. Er ließ die Stille eine Weile wirken und musterte sie von der Seite. Sie hatte die Schultern angespannt und wartete. Sie kann viel einstecken, dachte er. Eine richtig zähe alte Frau. Die reine Kriegerin.
»Sie bekommen eine Anwältin«, sagte er. »Auch sie hat Kinder.«
»Ach?« sagte Elsa.
»Ich wollte nur, daß Sie das wissen«, fügte er hinzu.
Elsa verschwand wieder in ihrem Schweigen. Das hätte ich häufiger tun sollen, dachte sie. Ich habe mein ganzes Leben lang geplappert. Weiß Gott, was ich alles gesagt habe.
»Sagen Sie Bescheid, wenn Sie etwas brauchen«, sagte Sejer. Er sagte das so freundlich, daß Elsa es als Liebkosung empfand. Sie blickte ihn verständnislos an. Für einen Moment war ihr Gesicht offen, dann schloß es sich wieder voller Mißtrauen.
»Ich brauche nichts«, sagte sie. »Ich komme allein zurecht. Das hab ich immer schon geschafft.«
Sejer wußte das. Er hätte
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