Schwarze Sekunden: Roman (German Edition)
jetzt angreifen können, plötzlich und unerwartet, nur um sie für einen Moment schwanken zu sehen. Es mußte doch möglich sein, sie auf eine Weise zu besiegen, die ihren Stolz unversehrt ließ. Er scheute davor zurück, sie unter Druck zu setzen, sie in die Irre zu führen. Er sehnte sich durchaus nicht danach, zu sehen, wie sie sich schämte, wenn er sie bei Widersprüchen ertappte. Er wollte sie an einen Punkt bringen, an dem sie alles erzählte. Als endgültiges, linderndes Geständnis.
*
D IE P RESSE WAR lange umhergesegelt und hatte sich gewissermaßen von den Luftströmungen treiben lassen, solange es im Fall Ida Joner nicht weiterging. Jetzt ließ sie sich aus großer Höhe auf eine überaus exotische Beute fallen. Auf eine Frau von dreiundsiebzig und ihren fünfzig Jahre alten verhaltensgestörten Sohn. Das alles erlaubte allerlei Spekulationen. Was war wirklich mit der kleinen Ida passiert, was genau hatten sie mit ihr gemacht? Auch wenn es keine Anzeichen für sexuellen Mißbrauch gab, was alle Zeitungen gebührend erwähnten, so ließen sie sich davon nicht zurückhalten. Dann war Ida eben auf andere Weise mißbraucht worden. Die Presse kannte sich aus mit der Kunst der Andeutung. Sie sagte nichts offen, sondern überließ es dem Publikum, seine Phantasie zu benutzen, was dann auch geschah. Bis auf weiteres war es völlig unklar, was mit Ida passiert war. Deshalb mußte sie sich auf andere Dinge konzentrieren. Aus dieser Geschichte ließ sich sehr viel Saft herauspressen. Das Gerücht über den Vogel mit dem klangvollen Namen Heinrich der Achte sah gedruckt ausgezeichnet aus. Der Verdächtige war nicht nur ein stummer Eigenbrötler, er besaß noch dazu einen Vogel, der sprechen konnte und den Namen eines Mörders trug. Das genügte, daß die Druckerschwärze nur so spritzte.
Elsa Mork war stark. Wie ihr Sohn stritt sie alles ab. Ida Joner habe ich nie gesehen. Nein, ich habe kein Nachthemd gekauft. Man tut ja viel für seine Kinder, aber soviel nun auch wieder nicht. Ob ich eine gute Näherin bin? Die flicken und nähen kann? Natürlich. Das können alle Frauen in meinem Alter.
Sie war sicher und entschieden. Und wurde abermals in ihre Zelle zurückgeführt.
Sejer schloß sich in seinem Büro ein, um in Gedanken das Verhör durchzugehen. Er versuchte sich vorzustellen, wie Elsa Mork im Gefängnis zurechtkommen sollte, falls sie verurteilt würde. Sie wird sicher die Flure putzen, dachte er, sie wird umherlaufen und die Aschenbecher im Raucherraum ausleeren. Heftiges Klopfen riß ihn aus seinen Gedanken. Jacob Skarre steckte den Kopf durch die Tür.
»Nur eine kurze Mitteilung«, sagte er und schien vor Aufregung beinahe zu platzen. Sejer versuchte, seine Gedanken von Elsa und ihren Angelegenheiten fortzulenken.
»Ja?« fragte er und schaute hoch.
»Willy Oterhals ist spurlos verschwunden.«
Skarre begriff selbst nicht, warum diese Nachricht ihn so aufregte. Sie nannten diese Art von Meldung »Besorgnismeldung«, denn Oterhals war immerhin zweiundzwanzig und würde zweifellos wieder auftauchen. Sejer antwortete nicht sofort. Dann dachte er an das Gespräch, das er in der Garage mit Oterhals geführt hatte. Er dachte an dessen Vorstrafe und an seine Freundschaft mit Tomme Rix. Mit Tomme, der Idas Vetter war.
»Verschwunden? Wieso das denn?« fragte er verwirrt.
»Seine Mutter, Anne Oterhals, hat eben hier angerufen. Willy ist am Freitag, dem 20. September, zusammen mit Tomme nach Kopenhagen gefahren. Und zwar haben sie die ›Pearl of Scandinavia‹ genommen. Tomme war wie abgemacht am Sonntagnachmittag wieder zu Hause. Aber Willy hat sich bisher nicht blicken lassen.«
Skarre ließ sich in einen Sessel fallen.
»Sie hat bei Familie Rix angerufen, um sich nach ihm zu erkundigen. Tomme sagt, sie hätten sich am Egertorg getrennt. Und Willy sei in der U-Bahn verschwunden, angeblich, um einen Bekannten zu besuchen. Diese Fahrt nach Kopenhagen diente vielleicht einem bestimmten Zweck«, meinte Skarre. »Wenn er noch immer mit Drogen handelt, dann bezieht er die vielleicht aus Dänemark. Und dann wollte er die Ware sicher irgendwo in Oslo abliefern. Aber dafür braucht er doch nicht so lange.«
»Was hat das also zu bedeuten?« fragte Sejer. »Und wie besorgt ist seine Mutter?«
»Sie sagt, daß er schon manchmal eine oder auch zwei Nächte ausbleibt, aber daß er dann immer anruft. Und daß er per Handy nicht zu erreichen ist. Was sonst immer der Fall ist. Er ist wie vom Erdboden
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