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Schwarze Sekunden: Roman (German Edition)

Schwarze Sekunden: Roman (German Edition)

Titel: Schwarze Sekunden: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Fossum
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nicht redete, war ein Problem. Aber es wäre für sie ein Triumph gewesen, wenigstens über seine Arbeit sprechen zu können. Emil, mein Sohn, der ist jetzt voll berufstätig, hätte sie beim Nähkränzchen sagen können, ohne genauer auf seinen Arbeitsplatz einzugehen. Einfach das sagen zu können, dieses Wichtige. Daß er morgens wie alle anderen aufstand und zur Arbeit ging. Emil war ohnehin ein Frühaufsteher. Er war keiner, der lange im Bett lag. Es war ihm nie schwergefallen, sich die Zeit zu vertreiben. Er trat ganz dicht an das Geländer heran. War so nah bei dem Wasserfall, daß er an seiner Wange eine kühlende Wolke spürte. Der Wasserfall hatte nicht nur eine Stimme. Nach einer Weile konnte Emil mehrere unterscheiden. Da gab es das tiefe Dröhnen, das unter allem lag, dann darüber andere, hellere Klänge. Sogar ein Rieseln, dort, wo das Wasser seicht war und über die Steine am Ufer floß, war herauszuhören. Es kam Emil wie ein ganzes Orchester vor, das in einem gleichmäßigen, seltsamen Strom spielte. Die tiefe Stimme sagte: Ich komme, ich komme, ich bin unaufhaltsam, groß und stark, die helleren eilten hinterher und johlten, warte auf uns, wir kommen auch noch, und die dünnen am Ufer spielten mit anderen Dingen, sie vergaßen alles und tanzten über die Steine, mischten sich in die tiefen Wirbel und wurden gelb und weiß vom Schaum. Alle Farben, dachte Emil. Von tiefem Grauschwarz bis zum schäumenden Weiß. Ein gleichmäßiger, heftiger Strom auf dem Weg zum Meer. Er dachte an den Moment, wenn dieses viele Wasser sein Ziel erreichte. Wenn es in das gewaltige Blau hineinströmte und sich langsam damit vermischte. Manchmal fuhr er zum Meer, um sich das anzusehen. Wenn er früh kam, lag das Meer still da, wie ein Spiegel. Und jedesmal erschien ihm das dann als Wunder. Daß so viel Wasser so still daliegen konnte.
    Er machte einen Schmollmund und versuchte ein Wort. Er wollte »unmöglich« sagen. Er stieß Luft aus seinem Bauch hoch und durch seinen Mund hinaus. Ihm fiel ein, daß Zunge und Lippen das Wort formen mußten. Er hörte etwas, das wie ein leises Grunzen klang. Er machte noch einen Versuch, er riß den Mund weit auf und horchte gespannt in das Brüllen des Wasserfalls. Aus seiner Kehle strömte ein langer rauher Ruf. Er ärgerte sich und versuchte es ein weiteres Mal. Seine Stimme war so rauh, er verstand es nicht. »Nein«, war leicht. Dieses Nein lag schon fertig im Mund, konnte ausgespuckt werden wie ein Kirschstein. Aber was war mit »ja«? Konnte er das sagen? Aber dieses Wort gefiel ihm nicht so gut, er hatte das Gefühl, sich damit preiszugeben, und das wollte er nicht. Wie sollte er es jemals schaffen, lange Wörter zu bilden? Wie zum Beispiel das komplizierte Wort »Mißverständnis«? Das war doch total unmöglich. Er gab auf und war traurig. Sein Gesicht war naß. Und dann fiel ihm das S ein. Das war ein Geräusch, das er ganz vorn im Mund bilden konnte, ohne Ton, nur wie ein Zischen, wie Schlangensprache. Das schaffte er! Er war sehr zufrieden. Und dann sollte man aufhören, dachte Emil Johannes. Er schlenderte zu seinem Moped zurück. Schob sich die Mütze tief in die Stirn. Gab Gas und fuhr auf die Straße hinaus. Er wußte nicht, daß zwei Kinder hinter einem Stein gelegen und ihn beobachtet hatten. Die Kinder lachten sich scheckig.
     
    Später saß er wieder im Wohnzimmer. Er konnte ja nicht die ganze Nacht am Wasserfall stehen. Und weglaufen konnte er auch nicht, er kannte ja kein Versteck. Er konnte nur warten. Dreißig Minuten später hörte er ein Auto vorfahren. Emil stützte die Hände auf die Fensterbank und ließ sein Gewicht darauf ruhen. Es war kein geringes Gewicht. Die Fensterbank gab nach und knackte, wie seine Bodenbretter. Es war nicht der Wagen seiner Mutter. Er schaute zum Vogel hinüber. Steckte einen Finger in den Käfig. Sofort biß der Vogel danach und leckte mit einer heißen, schwarzen Zunge. Sie war rauh wie Sandpapier. Dann kam das Klopfen, auf das er gewartet hatte, drei scharfe Signale. Emil ließ sich Zeit. Überzeugte sich davon, daß der Vogel Futter in beiden Näpfen hatte, dazu Wasser und Apfelscheiben. Langsam ging er dann zur Tür. Davor stand eine Polizistin, damit hatte er wirklich nicht gerechnet. Er sagte nichts, er stand nur da und sah sie an. Sie sah eigentlich freundlich aus. Ein weiterer Beamter stieg aus dem Auto, der Lockenkopf, der ihn schon einmal besucht hatte. Emil sah das Pflaster an seinem Finger. Was für ein Trottel,

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