Schwarze Stunde
Regenschirmen abgehängt, an der Wand hängen Fotos längst verstorbener Filmstars, und auch die Möbel sind antik. Ich werfe mich sofort auf ein altes, etwas abgeschabtes Sofa, Corvin setzt sich neben mich, sonst ist dieser Raum leer, die Kneipe hat gerade erst geöffnet, nur am Tresen vorne sitzen zwei ältere Männer vor ihrem Bier.
»Gut, dass hier niemand von draußen reinsehen kann«, sage ich, als unsere Getränke vor uns stehen. Auch wir haben jeder ein Pils bestellt, weil Corvin sagt, kaum irgendwo werde es so liebevoll gezapft wie in der Kleinen Philharmonie . Wir prosten uns zu und küssen uns nach dem ersten Schluck lachend gegenseitig den Schaum von den Lippen, endlich wieder seine Lippen, seine Körperwärme, nach der ich mich immer so sehne, wenn er in der Schule vor mir steht, die winzigen Bartstoppeln, die sich jetzt am Abend durch seine Gesichtshaut bahnen. Meine Hände in seinem Haar und seine in meinem, auf meinem Rücken, meinen Schenkeln. Es ist so schön, wieder bei ihm zu sein, allein mit ihm, so schön, dass mir nach unserem Kuss die Tränen in die Augen schießen. Er bemerkt es sofort.
»Was hast du?«, fragt er und kommt mir ganz nahe, streicht mir unendlich sanft mit dem Daumen eine Träne vom unteren Augenlid. Sein schönes Gesicht, der fröhliche Mund jetzt ganz ernst, seine Wuschelhaare hängen ihm fransig in die Stirn.
»Entschuldige«, quetsche ich durch einen Kloß im Hals hervor, »Scheiße, ich wollte nicht heulen, es tut mir leid.«
»Das muss dir nicht leidtun, Valerie. Ich weiß doch, wie schwer das alles für dich ist. Jetzt auch noch die Kursfahrt im November, ich weiß auch nicht, wie ich die überstehen und dabei so tun soll, als wärst du für mich nur eine Schülerin unter all den anderen.«
»Das ist es nicht.« Ich bemühe mich, nicht verheult zu klingen, will nicht, dass die Wirtin auf uns aufmerksam wird oder andere Gäste herschauen, es kann jederzeit jemand kommen. »Ich werde bedroht, Corvin. Und damit ja auch du.«
Abrupt lässt er mich los. »Was sagst du da?«, fragt er und starrt mich an, lässt mich nicht los, rückt nicht von mir ab, obwohl alles so schlimm ist, so schlimm. In meiner Tasche finde ich ein Tempo und schnäuze mich, ehe ich weiterrede, ihm alles erzähle, von den mysteriösen SMS nach unserem ersten Treffen am See, den blutverschmierten Schablonenbuchstaben in meinem Ringbuch, dem Link mit meinem angeblichen Todesdatum und den zerstochenen Reifen heute. Corvin hört mir zu, unterbricht mich nicht, streichelt unablässig meine Hand, in der anderen dreht er sein Bierglas hin und her. Natürlich macht das alles auch ihn nervös, so vieles steht für ihn auf dem Spiel. Er starrt vor sich hin, schüttelt den Kopf.
»Wer macht so was?«, fragt er mehr sich selbst als mich. »Fiona? Dein Ex? Yuki? Alle zusammen? Oder sogar Alena?«
»Alena nicht«, versichere ich. »Alena auf keinen Fall, sie hält dicht, das hat sie mir versprochen. Auf Alena kann ich mich verlassen, wir sind schon seit Jahren die besten Freundinnen, auch wenn sie mich manchmal nervt.«
»Was meinst du damit: Sie hält dicht? Du hast ihr nicht etwa von uns erzählt, oder?«
»Ich musste, Corvin. Ich hatte keine andere Wahl, weil ich ihr schon vor dir erzählt hatte, kurz nachdem ich aus dem Flieger gestiegen bin. Kaum hatte die Schule angefangen, merkte sie, dass irgendwas mit mir los ist. Was hätte ich tun sollen? Alena wochenlang anlügen? Aber ich habe ihr gesagt, dass wir Schluss gemacht haben, bevor es zwischen uns richtig begonnen hat. Nur so konnte ich den Schaden einigermaßen begrenzen.«
»Okay.« Er nickt und streicht mir eine Haarsträhne hinters Ohr. »Dann weiß sie wenigstens, dass wir uns schon gemocht haben, bevor wir wussten, dass ich dein Lehrer bin. Trotzdem ist es natürlich brandgefährlich, dass sie von uns weiß. Ein falsches Wort, ein Verplappern, ein Streit zwischen euch beiden …« Er vergräbt sein Gesicht in den Händen, stöhnt leise. »Nicht auszudenken. Das wäre die Hölle auf Erden.«
Wir nehmen beide unsere Gläser wieder auf, ich trinke in tiefen Zügen, um die erneut aufsteigenden Tränen herunterzuspülen, ich will stark bleiben, trotz allem einen klaren Kopf behalten.
»Willst du, dass wir aufhören?«, frage ich ihn hinterher. Er nimmt erneut meine Hand und legt sie auf seine Brust.
»Dazu ist es zu spät, Valerie. Hier steckst du schon viel zu tief drin. Ich habe mich in dich verliebt, wie ich nie zuvor verliebt war, und ich will
Weitere Kostenlose Bücher