Schwarze Stunde
versucht, mir das Kennzeichen zu merken. Wenn ich nicht ganz blöd bin, war es deins.«
Er zieht die Luft ein. »Wann soll das gewesen sein?«
»Kurz nach den Sommerferien. Ein Freitagabend, glaube ich.«
»So was traust du mir zu?«
»Warst du es?«
»Pffft.« Er tritt einen Schritt zurück. »Manchmal borge ich mein Bike einem Kumpel. Dann muss der das gewesen sein, der fährt manchmal ein bisschen krass. Aber schön zu wissen, was du von mir denkst.«
»Es hätte gefährlich werden können«, entgegne ich. »Du hast nicht gesehen, wie knapp er an mir vorbeigeschrammt ist. Wenn dein Kumpel so was öfter macht und irgendwann was passiert, bist du dran.«
»Ich hau ab«, erwidert er. »Das hier muss ich nicht haben.«
Wir trennen uns wortlos. Aber als ich aus dem dunklen Hausflur durchs Fenster auf die Straße schaue, steht Manuel immer noch da.
13.
I n den nächsten Wochen beginnt Corvin, öfter zu unterrichten. Besonders Frau Lindner scheint froh zu sein, wenn sie ihre Stunden an ihn abtreten kann und selber frei hat. Zwei, drei Stunden lang hat sie noch hinten gesessen und sich wie Frau Bollmann Notizen gemacht, doch wenig später habe ich beim Rausgehen gehört, wie sie zu ihm sagte: »Sie machen das schon, junger Mann. Ab jetzt dürfen Sie die Meute allein bändigen; ich setze mich nach nebenan in den Teilungsraum und korrigiere Klassenarbeiten. Wenn etwas ist, rufen Sie mich einfach, Störer können Sie mir auch gern mit einer saftigen Extraaufgabe schicken. Die Stundenentwürfe zeigen Sie mir natürlich vorher. Einverstanden?« Dazu sah sie ihn über den Rand ihrer Brille hinweg an, eine ihrer hellgrauen, akkurat gelegten Locken wippte bei jedem Wort, das sie sagte, und Corvin nickte mit teils erleichterter, teils verunsicherter Miene. Ich drehte mich im Vorbeigehen zu ihm um und lächelte ihn an; das packst du, versuchte ich ihm mit meinem Blick zu sagen. Er lächelte zurück.
Heute ist eine solche Musikstunde, die er ohne Mentorin bei uns halten soll, ich freue mich schon darauf. Zu Beginn der Stunde singt Corvin meistens einen Song zur Gitarre mit uns, ehe wir das übliche Pflichtprogramm herunterreißen müssen, musikalische Epochen und Komponisten längst vergangener Jahrhunderte lernen, obwohl auch das manchmal sehr schön ist und ich mir immer wieder insgeheim vornehme, auch privat öfter mal Klassik zu hören. Keine andere Musik ruft so intensive Bilder in mir wach wie gerade Klassik. Aber das Singen bei Corvin liebe ich, ich schwebe dabei geradezu.
Letztes Mal hatte er das fröhliche »No, No, Never« von Texas Lightning ausgesucht, das vor einigen Jahren mal der deutsche Beitrag zum Eurovision Contest gewesen ist. Die Stunde war wie ein Traum. My love is stronger now than you’ll ever know, and I won’t ever let you go … Dreiundzwanzig Jugendliche sangen und er begleitete uns, unter Corvins Anleitung geben wir inzwischen schon einen recht passablen Chor ab. Bei diesem Liebeslied musste ich immer wieder aufpassen, nicht dauernd zu ihm hinzusehen, doch auch sein Blick blieb manchmal eine halbe Textzeile lang an mir hängen, keep holding on, my love is strong . In diesen Augenblicken war ich so glücklich, dass ich die großen Fensterflügel im Musikraum hätte weit aufreißen und Corvin an die Hand nehmen mögen, um mit ihm fortzufliegen wie ein Adlerpärchen oder wie Zugvögel, die ihre Heimat verlassen, wenn es kälter wird, um ihr Glück am anderen Ende der Welt zu suchen. Beim Schlussakkord versanken unsere Pupillen erneut ineinander, wie schwarze Edelsteine funkelten seine, ein warmer Strom überschwemmte meinen Körper, ganz nah waren wir uns in diesem Moment.
Aber heute hatten wir Sport vor der Musikstunde und haben ausgerechnet Zirkeltraining gemacht, jetzt bin ich völlig verschwitzt und brauche länger als sonst, um mich frisch zu machen. Nach und nach leert sich der Duschraum, bis ich als Letzte übrig bleibe. Die Erste, die immer zurück in einen der Kursräume geht, ist Carla, die, ganz untypisch für eine Streberin, mit ihren langen, muskulösen Beinen auch in Sport ein Ass ist. Ich beneide sie darum, dass sie kaum jemals in Schwitzen gerät und sich deshalb nur ein wenig waschen muss, statt nach jeder Sportstunde komplett zu duschen.
Hastig werfe ich einen Blick auf meine Armbanduhr, in der feuchten Luft beschlägt das Zifferblatt, aber auch so kann ich mir denken, dass ich höchstens noch eine Minute Zeit habe. Ich stopfe mein Handtuch und die Turnschuhe in meine
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