Schwarze Stunde
den ich für die nächste Stunde aufsuche, kramt Regale und Schränke durch, stellt Mitschülern belanglose Fragen. Den letzten Englischtest, in dem ich eine glatte Eins geschrieben habe, gab sie mir mit einem Blick zurück, als wäre es eine Fünf gewesen, musterte mich voller Misstrauen, dabei war der Test wirklich simpel, die paar Vokabeln und Gerundiumsregeln haben wir schon in der Elften hundert Mal durchgekaut. Aber die Muttersprachlerin Fiona hatte nur eine Zwei, das darf nicht sein, kann nicht sein. Einen ebenso guten Test wie ich hatte nur Carla, aber das fällt niemandem auf, weil sie immer eine der Besten ist und nie viel Aufhebens darum macht.
Ausgerechnet jetzt, wo die Klausurphase begonnen hat. Ich schaffe es so schon kaum, mich auf den Lernstoff in all den verschiedenen Fächern zu konzentrieren, und auch während der Arbeiten selbst mache ich Flüchtigkeitsfehler, schreibe und streiche wieder durch, starre minutenlang aus dem Fenster statt auf die vor mir liegenden Blätter, blicke gehetzt um mich, als würden sie alle hinter meinem Rücken stehen und mitverfolgen, was ich aufschreibe, um aus jedem Satz, jedem Wort wieder etwas zu deuten, was mich eines Verhältnisses mit Corvin überführt. Bei keiner der Klausuren, die ich schon hinter mich gebracht habe, stellte sich nach der Abgabe ein zufriedenes Gefühl bei mir ein, sie sind alle schlecht gelaufen. Ich glaube, dieses Halbjahr habe ich, außer in Englisch, komplett vermasselt.
»Warum kommst du nicht jeden Tag zu mir und wir lernen zusammen?«, fragt mich Alena, als ich nach der Deutschklausur besonders geschafft bin. »Ich bin auch nicht in allem perfekt, aber zusammen packen wir das.«
»Jeden Tag?«, wiederhole ich gedehnt. Ich bin noch gar nicht richtig anwesend, immer wieder geht mir alles Mögliche durch den Kopf, was ich hätte besser formulieren und noch hinzufügen können. Außerdem vermisse ich Corvin. Wir haben uns nun schon fast zwei Wochen nicht getroffen und telefonieren auch nicht miteinander, schreiben uns nur ganz selten SMS , sondern leben fast ausschließlich von E-Mails. Die kann wenigstens niemand von den anderen lesen.
»Sicher, jeden Tag«, bekräftigt sie und hakt sich bei mir unter. »Es soll doch was bringen, oder? Was ich nicht weiß, damit kennst du dich vielleicht aus, und umgekehrt. Für die nächste Klausur sind wir dann perfekt vorbereitet, du wirst sehen! Und nach dem Lernen unternehmen wir etwas Schönes zusammen, als Belohnung sozusagen. Wir können ins Kino gehen, Kaffee trinken, einen gemütlichen DVD -Abend nur unter Mädels …«
»Jeden Tag ist mir zu viel«, entgegne ich eine Spur harscher, als ich beabsichtigt habe. Wir stehen in der Mensa in einer kurzen Schlange zum Mittagessen an, unser Jahrgang ist heute als Letzter an der Reihe, selbst die elften Klassen räumen schon ihr Geschirr zusammen und machen sich auf den Weg in den Nachmittagsunterricht. Von hinten drückt mir Fiona ihr Tablett in den Rücken.
»Warum ist es dir zu viel, dich jeden Tag mit deiner besten Freundin zu treffen?«, fragt sie. »Und mit ihr zusammen zu lernen? Für die Englischklausur zum Beispiel, he? Wir wollten uns eigentlich anschließen. Nicht wahr, Yuki?«, fragt sie und dreht sich um, ohne ihr Tablett von mir zu lösen, im Gegenteil; sie schiebt es noch weiter in meinen Körper, drängt mich damit gegen Alena. Yuki nickt, ihre dunklen, unbewegten Augen auf mich gerichtet, ihr schönes, schmales Gesicht eine Mauer. Plötzlich bin ich von allen umringt, eingekeilt in einem starren Ring aus Menschen mit leeren Tabletts, deren Kanten sich um mich schließen wie eine eiserne Jungfrau, an meiner Kehle, im Nacken, den Schultern, sie bohren sich in meine Taille und in die Kniekehlen, überallhin. Irgendjemand hält sein Tablett so schräg, dass die darauf stehende Kaffeetasse auf mich zurutscht und sich das heiße Getränk über mein Top ergießt. Oleg wendet sich kurz den Küchenfrauen zu und bedeutet ihnen mit einer einzigen Handbewegung, sich nicht einzumischen, und sein Gesichtsausdruck dabei macht deutlich, dass er keinen Widerspruch duldet. Kosta schließt die Tür.
»Wir alle wollten uns anschließen«, zischt Fiona, und ihr Gefolge nickt, auch Manuel, der mir jetzt sein Tablett senkrecht in die Poritze bohrt, warum habe ich heute nur einen weiten, weichen Rock an statt einer Jeans, dann wäre es nicht ganz so entwürdigend.
»Wir wissen, warum du nicht mit uns lernen willst, Valerie. Du weißt es auch, noch viel
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