Schwarze Stunde
Kleiderschrank zu springen, wo sie sich hinkauert und das Geschehen von oben beobachtet. Seit Alena und ich hier sind, hechtet Mama beflissen durch die Wohnung, füllt die Waschmaschine und hängt hinterher alles auf dem Balkon auf, saugt Staub, wischt die Kommoden ab, lüftet alle Zimmer, kocht Gemüsesuppe und gibt meinem Vater am Telefon eine Einkaufsliste durch, sortiert Papiere und putzt das Bad. Sie regt mich auf mit der Hektik, die sie verbreitet. Ich muss hier weg.
»Komm«, sage ich und ziehe Alena hoch. »Wir gehen an die frische Luft.«
Draußen falle ich sofort in ein zügiges Tempo, während Alena hinter mir hertrottet, als hätte sie bereits einen kilometerlangen Fußmarsch hinter sich. Ich muss mich zwingen, meine Schritte zu drosseln, muss ihr zuhören, herausfinden, ob ihr Gehabe nur Show ist, Teil der Taktik der anderen.
»Was enttäuscht dich so?«, frage ich mit gewollt sanfter Stimme. Trotz allem habe ich nur noch Alena. Vielleicht ist sie genauso zerrissen wie ich, möglicherweise wird auch sie unter Druck gesetzt. Über uns ziehen sich schwarze Wolken zusammen, und ein kalter Nieselregen setzt ein, der sich rasch verstärkt. Wir haben keinen Schirm dabei, ziehen uns aber die Kapuzen unserer Jacken über den Kopf und blicken uns nach einem Regendach oder Hauseingang um, wo wir uns unterstellen können.
»Da drüben.« Alena deutet mit ausgestrecktem Arm auf den großen Spielplatz in der Bundesallee. Jetzt am späten Nachmittag und bei dem Wetter liegt er verlassen da, keine Kinder hangeln sich mehr über die Klettergerüste oder buddeln im Sand, nicht einmal Jugendliche haben in einem der überdachten Holztürme, die durch eine Hängebrücke miteinander verbunden werden, Unterschlupf vor dem Regen gesucht, um heimlich zu rauchen und miteinander zu reden. Zielstrebig ergreift Alena meine Hand und zieht mich über die Straße; auf einmal scheint sie ihre Energie zurückgewonnen zu haben. Wir rennen zum Spielplatz, Alena steuert auf einen der beiden Türme zu, klettert hinauf, ohne mich loszulassen, ich habe keine Wahl, ihr Griff um meine Hand fühlt sich an wie eine Fessel, ich kann ihn nicht lockern, klettere hinter ihr her, das Holz beginnt bereits glitschig zu werden in der Feuchtigkeit, aber schließlich sind wir doch oben. Die letzten Sprossen zieht mich Alena hoch, doch auch in dem kleinen Aussichtshäuschen macht sie noch nicht halt, sondern zerrt mich weiter, hinaus auf die Hängebrücke, auf die der Regen prasselt und die unter unseren Füßen wackelt und schlingert. Erst als wir in der Mitte angekommen sind, lässt sie meine Hand los, bleibt aber neben mir stehen. Ich fröstele leicht und ziehe meine Jacke enger um die Schultern.
»Hier war ich als Kind oft«, sagt sie und blickt sich um, lässt ihren Blick über die Liegewiese streifen, den »Affenkäfig« und die Sandkisten dahinter.
»Ich auch«, antworte ich.
»Wirklich? Da sind wir uns aber nie begegnet!« Alena starrt mich an. »Wann warst du immer hier?«
Ich hebe meine Schultern. »Meistens sonntags vormittags, dann ist mein Vater mit mir hergekommen. In der Woche eher selten, da habe ich mit den Nachbarskindern auf dem Hof gespielt.«
Alena stampft mit dem Fuß auf.
»Verdammt!« Ihr Gesicht ist wutverzerrt, als hätte man ihr soeben etwas Kostbares weggenommen. »So nahe haben wir immer schon beieinander gewohnt, haben an denselben Orten gespielt und uns trotzdem erst am Gymnasium kennengelernt? Wir hätten viel mehr Zeit miteinander verbringen können, wenn du auch an ganz normalen Wochentagen auf den Spielplatz gegangen wärst!«
»Alena«, bemerke ich und lege meine Hand auf ihren Arm. »Das ist doch nicht schlimm, wir konnten es beide nicht wissen. Umso besser, dass wir jetzt befreundet sind, das allein zählt.«
»So viel verpasste Zeit!« In ihren Wimpern hängen Tränen.
»Was soll denn das jetzt«, versuche ich sie zu beruhigen. »Steigere dich doch nicht in etwas hinein, was wir nicht ändern können. Jetzt haben wir uns, und mir bedeutet das sehr viel, gerade jetzt, Alena. Ich bin froh, dass du meine Freundin bist, ohne dich würde ich diesen Terror in der Schule nicht durchstehen. Aber jetzt komm, lass uns zurückgehen oder irgendwo rein und etwas Heißes trinken. Mir ist kalt.«
»Dir ist kalt«, wiederholt sie bitter, in ihren Augen blitzt etwas auf, das ich nicht deuten kann, Vorwürfe, Unverständnis, Wahnsinn oder alles auf einmal. »Weißt du, wie oft mir kalt war in all den Jahren? Ich hatte
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