Schwarze Stunde
darüber, dass ich die Trennung von Corvin hinter mich gebracht hatte, überkam mich ein grenzenloses Gefühl von Trauer, das auch jetzt noch anhält; mir ist zumute, als ob ich in einen Krater stürze oder in einen leeren Brunnen, von Treibsand verschluckt werde. Erst ganz allmählich ist mir klar geworden, dass er wirklich weg ist, fort aus meinem Leben, von der Schule einmal abgesehen. Ich habe ihm gesagt, es sei vorbei, und noch am selben Abend hat er angefangen, mir so sehr zu fehlen, dass es schmerzt, mein ganzer Körper brennt innerlich. Irgendwie habe ich die Nacht herumbekommen, die meiste Zeit davon wach, nur ab und zu bin ich in eine Art Halbschlaf gefallen, und die ganze Zeit fühlte ich selbst dann und sofort wieder beim Aufwachen dieses schwarze Gefühl von Leere und Hoffnungslosigkeit. Es gibt nichts mehr, auf das ich mich freuen kann. Auch beim Frühstück wurde es nicht besser, und ich war froh, endlich aufstehen und aus dem Haus gehen zu können, nachdem ich nur ein paar Schluck Tee getrunken und eine Scheibe Toastbrot gegessen habe. Meiner Mutter habe ich etwas von einer leichten Magenverstimmung erzählt.
Auf die Idee, zu Alena zu gehen, bin ich erst draußen gekommen. Mit irgendjemandem muss ich jetzt reden, und außer ihr gibt es niemanden, der mich auch nur halbwegs verstehen könnte. Es widerstrebt mir, ausgerechnet dies mit ihr zu teilen, ausgerechnet jetzt. Aber ich kann so nicht zur Schule gehen, kann Corvin nicht unter die Augen treten, solange ich noch so verheult bin. Alena hat gesagt, dass sie mich liebt. Sie muss mir helfen, mich irgendwie auffangen.
»Komm erst mal rein«, sagt sie, ich zögere, will nicht so gesehen werden, ungeschminkt, weil jede Farbe in meinem Gesicht sowieso verlaufen würde, rot geweint, klein und wie zertrümmert. Alena bemerkt meinen Blick.
»Hier ist niemand, der überflüssige Fragen stellen könnte, wir sind ganz unter uns.«
Sie nimmt mich am Arm und lotst mich durch die Tür, dieses Mal bleibt sie behutsam, umschlingt mich nicht, drückt mir keine Küsse ins Gesicht und auf die Lippen. Sobald sie die Tür hinter uns geschlossen hat, geht sie mir voraus in die Küche und setzt die Padmaschine in Gang, wenig später durchströmt ein anregender Duft nach frischem Kaffee den Raum. Sie nimmt die zwei fertig gefüllten Tassen heraus, schüttet ein paar Pralinen aus einer angebrochenen Packung in ein Schälchen und stellt alles auf den Tisch, rückt Zuckerdose und Milchkanne neben einer Blumenvase mit Astern zurecht. Der Anblick tut gut, alles wirkt so aufgeräumt, so unschuldig, als gäbe es kein zerstörtes Leben wie meines, kein Mobbing, keine Todesdrohungen, keinen Liebeskummer. Gleichzeitig schmerzt es nur umso mehr.
»Der Kaffee wird dich ein bisschen klarer sehen lassen«, ermuntert sie mich. »Und weißt du was: Zur Schule müssen wir beide heute überhaupt nicht gehen. Wir bleiben einfach hier und du erzählst mir alles in Ruhe.«
»Kann ich zuerst ins Bad gehen?«, frage ich fast schüchtern. »Ich würde mir gerne mein Gesicht waschen, komme mir total verquollen vor.«
»Du kommst dir nicht nur so vor«, meint Alena nach einem kurzen Blick. »Lass dir Zeit.«
Als ich wiederkomme, beendet sie gerade ein Gespräch an ihrem Handy.
»Mit der Schule ist alles klar«, verkündet sie und legt das Telefon neben ihre Kaffeetasse. »Ich habe Carla Bescheid gesagt, dass wir uns beide im Schnellrestaurant einen Magen-Darm-Virus eingefangen haben. Auf Carla ist Verlass, die mischt sich nicht ein. Wenn sie das Frau Bollmann verklickert, wird die es schlucken.«
Wir trinken unseren Kaffee. Die ganze Zeit versuche ich, mir selber vorzugaukeln, ich würde einfach nur zusammen mit meiner besten Freundin blau machen, Milchkaffee mit Löffelschaum genießen und in den Tag hi-neinleben. Alena hat das Küchenradio eingeschaltet, in gedämpfter Lautstärke lockern die neuesten Hits aus den Charts gespickt mit ein paar coolen Sprüchen und Werbung unser Schweigen auf. Ich beobachte den Sekundenzeiger der Wanduhr, der unaufhaltsam weiter rückt; jeder kleine Schritt, jeder Atemzug, jede Sekunde trägt mich weiter weg von Corvin, lässt unsere Trennung länger her sein. Es müsste doch leichter werden. Stattdessen breitet sich der Schmerz in mir aus, so wie schwarzes Öl nach einer Schiffskatastrophe das Meer verseucht. Ich hatte geglaubt, es würde mich befreien, wenn ich mich von Corvin lossage, dabei habe ich mich doch nur mit ihm immer wirklich frei gefühlt,
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