Schwarze Stunde
nimmt sie Corvin am Arm und versucht ihn weiterzuziehen. Aber meine Mutter scheint nichts zu bemerken.
»Jetzt ist es ja auch bald so weit – die große Englandreise«, fährt sie fort. »Valerie freut sich schon sehr, das Geld haben wir pünktlich überwiesen.«
»Ja, es ist eingegangen. Und genau für diese Fahrt kaufen wir gerade ein. Also dann – ich wünsche Ihnen einen schönen Abend.« Frau Bollmann reicht Mama die Hand; Alena und mir nickt sie zu, die Augen schmaler als sonst, das Lächeln gefroren. Mir läuft eine Gänsehaut über den Rücken.
Später finde ich eine neue Nachricht auf meinem Mobiltelefon. Absender unbekannt.
Du schreckst vor nichts zurück, wie? , lese ich. Aber das wirst du bereuen. So sehr bereuen, dass du den Tag verfluchen wirst, an dem du geboren bist.
20.
D ie nächsten Tage verlebe ich, als gäbe es mich nicht. Durch die Schule laufe ich wie ein Geist, antworte im Unterricht mechanisch oder gar nicht, lasse alles schleifen. In Corvins Stunden setze ich mich immer in die letzte Reihe und lasse seinen Unterricht an mir vorbeiziehen wie ein Schlechtwettergebiet. Wir vermeiden es, einander anzusehen, nur selten streifen mich seine Blicke, und jedes Mal sehen wir beide rasch wieder weg, es gibt kein verstohlenes Lächeln mehr, keine innehaltenden Blicke wie stille Kerzenflammen. Ich melde mich nicht und er nimmt mich nicht dran.
Nicht nur ich, auch er hat sich verändert, seit es aus zwischen uns ist. Die Songs, die er mit uns singt, haben nichts mehr mit Gefühlen zu tun. Er bringt uns politische oder unterhaltsame Stücke verschiedener Liedermacher bei, versucht es mit humorvollen Songs, aber seine Scherze wirken hölzern, seine Stimme verkrampft beim Singen, manchmal bricht sie beinahe. In diesen Momenten würde ich am liebsten aufspringen und zu ihm nach vorn laufen, meine Arme um ihn schlingen und ihn wiegen wie ein Kind. Ich wollte nicht, dass es so kommt; keiner von uns hat beabsichtigt, dem anderen derart wehzutun. Natürlich geht das nicht, und ich schaffe es nur mit Mühe, meine eigenen Tränen zu unterdrücken.
Im Englischunterricht bei ihm behandeln wir fast ausschließlich Grammatik; Stunden, in denen ich kaum von meinem Tisch aufblicke, sondern wie ein Roboter meine schriftlichen Aufgaben erledige. Auch Corvin leiert seinen Stoff herunter wie ein Endlosband. Die meisten Stunden übernimmt jedoch wieder Frau Bollmann, um mit uns die Reise vorzubereiten. Hier schalte ich erst recht ab, weil ich mich schon jetzt fühle, als wäre ich nichts als ein herrenloser Koffer mit Schmutzwäsche, der mitgeschleift werden muss, zu niemandem zugehörig,
Die Veränderungen an Corvin und mir bleiben auch den anderen nicht verborgen. Niemand spricht mich darauf an, aber alles scheint so einzutreten, wie Alena es prophezeit hat. Es gibt nichts mehr zu beobachten und mit der Kamera festzuhalten, ich biete ihnen keinen Gesprächsstoff mehr und keine Angriffsfläche. Hin und wieder bemerke ich die Blicke der anderen, wenn Corvin unterrichtet oder auch nur in unserer Nähe Aufsicht hat; lauernd, abwartend, lüstern nach Gesprächsstoff, nach neuen Sensationen, nach etwas, das sie mir vorwerfen oder zumindest unterstellen können. Aber alles verpufft, weil zwischen Corvin und mir nichts mehr spürbar ist. Wir müssen keine heimliche Liebe mehr aus unseren Gesichtern verdrängen. So vieles zwischen uns ist unausgesprochen geblieben, wir gehen uns aus dem Weg, sofern es möglich ist. Ich versuche, meinen Alltag wieder aufzunehmen, den Alltag, den es gab, bevor Corvin in mein Leben trat, und die anderen scheinen mitzuspielen. Vielleicht hat Alena dafür gesorgt; ganz offen zeigt sie nun wieder vor aller Welt ihre Freundschaft zu mir, ohne von Liebesgefühlen zu reden, schleppt mich mit, wenn sie auf dem Schulhof mit Fiona und Yuki reden will, und weist jeden mit einer bissigen Bemerkung in die Schranken, der es wagt, zynische Kommentare über mich und Corvin zu liefern. Und tatsächlich fangen sie alle schon bald an, mich wieder teilhaben zu lassen an ihrem Leben, wechseln ganz normal in den Pausen Worte mit mir, beziehen mich in Arbeitsgruppen und Freizeitaktivitäten ein.
An einem Nachmittag wenige Tage vor meinem Geburtstag gehen wir sogar in einer größeren Gruppe ins Kino, fast alle aus dem Englisch- und Musikkurs sind dabei, auch Leute, mit denen ich sonst weniger zu tun habe, wie der politisch aktive Nick, Attila aus der Türkei und die immer unverbindlich-freundliche Mirja,
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