Schwarze Themse
Haus gewesen sein, und sie schätzte sie alle, jeden auf seine Weise. War das Band aus Angst und Ãberlebenswillen stärker als das, was einen von ihnen dazu gebracht hatte, jemanden umzubringen?
»Sie haben gar nicht darum gebeten, Ihrer Familie eine Nachricht zukommen zu lassen«, sagte sie zu Mercy. Sie wollte
nicht aufdringlich sein. Mercy hatte nie über ihr Zuhause gesprochen. Sie hatte nicht einmal gesagt, ob sie wusste, dass ihr Bruder Ruth Clark in die Klinik gebracht hatte, obwohl Hester davon ausging, dass dem so war. Sie schien Anfang zwanzig zu sein, war erfreulich anzuschauen und hatte gewiss einen angenehmen Charakter. Warum genoss sie nicht das gesellschaftliche Leben, das ihre Stellung ihr bot? Hatte sie eine Liebesaffäre gehabt, die so unschön ausgegangen war, dass sie immer noch zu verletzt war, um an einen neuen Mann zu denken? War das der Grund, warum sie hier war â um einem noch gröÃeren Schmerz zu entfliehen? Hester begriff, dass sie das angenommen hatte, obwohl es keine Beweise dafür gab.
Mercy schüttelte den Kopf. »Mein Bruder weiÃ, dass ich hier bin«, antwortete sie. »Ich habe ihm einen Brief hinterlassen. Ich kann ihm nicht sagen, warum ich bleibe, aber er wird sich keine Sorgen machen.«
»Es tut mir Leid«, entschuldigte Hester sich. »Sie müssen vieles vermissen, was Ihnen zur Verfügung stehen würde, wenn Sie hier wegkönnten.«
»Hat keinen Sinn, darüber nachzudenken.« Mercy zuckte die Schultern. »Zudem glaube ich nicht, dass irgendetwas davon wirklich wichtig ist. Man zieht seine besten Kleider an und bedient sich seiner besten Manieren und ist am Ende so höflich, dass man nur noch über das Wetter spricht oder welches Buch man gerade gelesen hat â natürlich nur, solange es kein umstrittenes ist! Der Himmel bewahre uns davor, nachdenken zu müssen! Jeder hofft, jemanden zu treffen, der wirklich so interessant ist, dass man es kaum erwarten kann, ihn wiederzusehen, aber kann das wirklich passieren, wenn man nicht furchtbar anspruchslos ist? Ich bin in groÃer Gefahr, mir einzureden, es sei so, obwohl mein besseres Ich genau weiÃ, das dem nicht so ist.« Sie lächelte und wischte geistesabwesend über den Kohlenstaub auf ihrer Schürze. »Jedes Mal sage ich mir: âºNächstes Mal, nächstes Malâ¹, und dann ist es doch immer wieder das Gleiche. Das hier ist zumindest real!«
»Besteht Ihre Mutter nicht darauf, dass Sie so viele junge Gentlemen kennen lernen wie möglich? Meine war so«, erinnerte Hester sich verlegen und traurig. Ihre Mutter war aus Kummer und vielleicht auch aus Scham gestorben, nachdem ihr Vater Selbstmord begangen hatte, weil er durch einen Finanzskandal ruiniert worden war. Der Tod ihrer Eltern war der Grund gewesen, warum sie vorzeitig von der Krim zurückgekehrt war.
Mercy hatte den Kummer in ihrer Miene wohl bemerkt. »Meine Eltern sind tot«, sagte sie leise. »Es klingt so, als wäre Ihre Mutter auch nicht mehr am Leben?«
»Ja, und mein Vater ebenfalls nicht«, räumte Hester ein und richtete sich auf, um zum Tisch hinüberzugehen. »Ich hätte nicht fragen sollen. Ich wollte nur sagen, dass Sie eine Nachricht schicken können, wenn Sie möchten. Sutton würde sich darum kümmern, dass sie zugestellt wird.«
»Es gibt niemanden«, antwortete Mercy, holte das Brot aus dem Kasten und reichte es Hester. »Meine ältere Schwester Charity hat einen Arzt geheiratet. Vor sieben Jahren. Sie blieben ein Jahr in England, dann beschloss er, nach Ãbersee zu gehen, und natürlich ist Charity mit ihm gegangen.«
»Das muss hart für Sie gewesen sein.«
Mercy zuckte leicht die Schultern. »Zuerst schon«, sagte sie und wandte das Gesicht ab, sodass Hester ihre eine Wange sehen konnte und das Spiel der Muskeln an ihrem Hals. »Aber sie war zehn Jahre älter als ich, also standen wir uns nicht so sehr nahe.«
»Und Ihr Bruder ist auch älter«, bemerkte Hester, die sich an Clement Louvain erinnerte.
»Ich bin das Nesthäkchen«, sagte Mercy und hob das Kinn ein wenig. Ihr breiter Mund verzog sich zu einem Lächeln. »Meine Mutter war fast vierzig, als ich auf die Welt kam. Aber ich glaube, sie hat mich deswegen auch besonders gern gehabt.« Sie wandte sich erneut Hester zu. »Ich mache uns eine Tasse Tee. Claudine wird sicher auch eine wollen, und
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