Schwarze Themse
alle eindringlich bewusst, dass die Krankheit mitten unter ihnen war wie ein brütendes Wesen, das jederzeit einen von ihnen oder gar sie alle holen konnte. Jeder Schmerz, jede Müdigkeit, jeder Augenblick der Hitze oder Kälte, jeder stechende Kopfschmerz konnte der Anfang sein. Hester war nicht die Einzige, die über jede Empfindlichkeit in der Brust oder im Arm nachdachte, sich selbst ängstlich untersuchte und sich einbildete, Schatten oder leichte Schwellungen zu entdecken.
Mercy unterbrach sie in ihren Gedanken. »Mr. Robinson, wir haben Verständnis dafür, dass Sie Angst haben, aber das haben wir alle. Wenn wir uns gegenseitig absichtlich verletzen, macht es das nur noch schlimmer.«
Squeaky errötete, aber unter seiner Verlegenheit lag immer noch Zorn. Er lieà sich nicht gerne kritisieren, insbesondere nicht vor Claudine. Er wusste, dass er im Unrecht war, und es kränkte ihn, dass Mercy, die er bewunderte, diejenige war, die mit dem Finger darauf wies. »Ihre Zunge ist doch mit Säure getränkt!«, sagte er anklagend.
»Und Sie finden das so bemerkenswert, dass Sie es ihr nachtun müssen?« Mercy zog die Augenbrauen hoch.
Hester lächelte, denn die einzige andere Alternative wäre gewesen zu weinen, und wenn sie damit anfing, konnte sie womöglich gar nicht mehr aufhören. Sie war müde und verwirrt
und hätte alles dafür gegeben â auÃer den Preis, den es tatsächlich kosten würde â, nach Hause gehen zu können.
Die Hintertür öffnete sich, und sie drehten sich alle verdutzt und mit vor Angst heftig klopfenden Herzen herum.
Aber es war nur der kleine Terrier Snoot mit dem halb weiÃen, halb braunen Gesicht, der hereingetollt kam und mit dem Schwanz wedelte. Sutton folgte ihm. Hester atmete erleichtert auf, und ihr wurde klar, dass sie hätte wissen müssen, wer es war. Die Männer mit den Hunden hätten sonst niemanden durchgelassen.
Sutton schaute sich im Raum um, aber falls er die Anspannung spürte, lieà er sich nichts anmerken. Er hatte Rinderknochen dabei, zwei Flaschen Brandy und ein Pfund Tee. »Miss Margaret muss die Sachen gebracht haben«, sagte er und stellte alles auf den Tisch. Er strich mit der Hand sanft über den kleinen Hund. »Das ist alles für heute Abend«, sagte er freundlich. »Und jetzt gehen Sie zu Bett.«
Der Zorn im Raum verflüchtigte sich, und alle wandten sich wieder ihren Pflichten zu.
Es war mitten in der Nacht, als sich der Zwischenfall ereignete. Hester hatte ein paar Stunden geschlafen und machte die Runde bei den schwer kranken Frauen, als sie auf dem Treppenabsatz in der Nähe etwas hörte. Sie wusste, dass Bessie ebenfalls die Runde machte, und nahm zuerst keine Notiz davon. Dann hörte sie ein langes Wimmern, das sich zu einem Entsetzensschrei steigerte, und stellte die Tasse mit Wasser, die sie in der Hand hielt, ab. Sie entschuldigte sich bei der matten, fiebernden Frau und trat hinaus in den Gang.
Bessie kämpfte mit einer Frau namens Martha, die mit schwerer Bronchitis zu ihnen gekommen war und inzwischen auf dem Weg der Besserung gewesen zu sein schien. Bessie war breit und stark, aber Martha war jung und gleichermaÃen stämmig gebaut und schien über bemerkenswerte Kräfte zu verfügen. Bessie hielt sie eisern umklammert, und Martha bog sich von ihr weg und trommelte mit den Fäusten gegen Bessies
Brust. Als Hester einen Schritt auf sie zumachte, traf Marthas rechte Faust Bessie im Gesicht, und Bessie lieà sie mit einem schmerzvollen Schrei los. Blut schoss ihr aus der Nase.
Martha fiel nach hinten, stieà gegen die Wand und taumelte unbeholfen.
Hester wollte auf sie zugehen, aber Martha kam wieder auf die FüÃe und stürmte den Gang hinunter zur Treppe.
»Kümmern Sie sich nicht um mich!«, rief Bessie und drückte die Schürze gegen ihre blutende Nase. »Halten Sie sie auf! Sie will weglaufen! Sie hat schwarze Beulen.«
Hester zögerte nicht. Bessie würde warten müssen. Martha musste um jeden Preis aufgehalten werden. Schon war sie am oberen Ende der Treppe und lief, immer noch schreiend, hinunter.
Flo kam aus einem der anderen Schlafzimmer und sah Bessie, deren Gesicht und Busen scharlachrot waren. Sie schrie ebenfalls auf und lief auf sie zu.
»Mir gehtâs gut!«, rief Bessie ihr zu. »Hindern Sie die dumme Frau daran abzuhauen! Schnell! Helfen Sie, um Gottes
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