Schwarzer, Alice
den EU-Beitritt der Türkei - als stünden die
Türken ante portas und hätten sie nicht noch Jahre, wenn nicht Jahrzehnte der
»Prüfung« vor sich - und die CDU widerspricht nur matt. Die Grünen empören
sich erwartungsgemäß (»politische Brandstifter«). Und die SPD ist zwar für den
Beitritt, hört aber nicht auf zu versichern, das Ganze sei dennoch sehr
fraglich (80 % der Türkinnen wählen links).
Das wäre fatal. Denn die Frage des EU-Beitritts der Türkei
ist ein sehr komplexes Problem, in dem, wie in einer russischen Puppe, gleich
mehrere weitere Probleme stecken. Die Frage lautet: Was könnte ein
Türkei-Beitritt bedeuten für Deutschland? Für Europa? Und für die Türkei?
Beginnen wir die Antwort mit einer vierten Frage: Wem
nutzt der Beitritt der Türkei überhaupt? Zweien ganz gewiss, und die sind auch
uneingeschränkt dafür: die Wirtschaft und Amerika.
Fangen wir mit der Wirtschaft an. Die hat natürlich ein Interesse
an einer erweiterten Freihandelszone. Von der Türkei verspricht sich auch die
deutsche Wirtschaft einen neuen Markt, allen voran die Rüstungsindustrie. Nur:
Die Interessen der Wirtschaft sind keineswegs immer identisch mit denen der
Menschen, und schon gar nicht zwingend mit dem eines wirklich geeinten, gerade
mühsam zusammenwachsenden Europas.
Kommen wir zu den Motiven der USA. Die Türkei ist in der
Tat eine Brücke zwischen Europa und Asien. Sie grenzt im Osten an
Aserbaidschan, den Irak und Syrien - alles Länder, deren Bevölkerungsmehrheit
muslimisch ist und die massive Probleme mit der Infiltration und Agitation
fundamentalistischer Kräfte haben. Genau darum ist Amerika an einer
EU-Mitgliedschaft interessiert: nicht nur als Durchgangsland für die Pipelines,
sondern auch als Bollwerk gegen den Islamismus. Und als Startrampe für die
US-Bomber zu den diversen Nahost-Konflikten.
Nur: Ein ganz ähnlicher Kalkül ist schon einmal gnadenlos
ins Auge gegangen. Nämlich als Amerikas Strategen ab Mitte der 80er-Jahre
begannen, den sogenannten »grünen Gürtel« um den damaligen Feind Nr. 1 zu
legen: die Sowjetunion. »Grün« steht hier für die Islamisten und ihr grünes
Märtyrerband. Diese Kräfte wurden von Washington gestützt, ja sogar gefördert
(bis hin zu Bin Laden) - in der naiven Hoffnung, die Islamisten als Kämpfer
gegen die Kommunisten funktionalisieren zu können.
Das klappte auch bis zu einem gewissen Punkt. Nicht nur in
Afghanistan jagten die grünen Dschihad-Krieger die Rote Armee zum Teufel, bis hin
nach Tschetschenien machten und machen sie den Postkommunisten zu schaffen.
Doch gleichzeitig lösten die Gotteskrieger sich mithilfe des Iran (Ideologie)
und Saudi-Arabiens (Dollars) vom amerikanischen Einfluss, machten sich
selbstständig. Jetzt sitzen Kapitalisten und Postkommunisten in einem Boot -
und zittern vor der heranbrandenden grünen Welle.
Mit der Türkei scheint Amerika heute ein ähnlich riskantes
Spiel zu versuchen. Denn es stellt sich die Frage, ob der einst so überzeugte
islamistische Hardliner und heutige Präsident Recep Tayyip Erdogan der richtige
Mann ist, auf den Amerika setzt (und damit der Westen). Denn: Auf wen setzt
Erdogan?
Lebenslauf und Lebenswandel des angeblich Bekehrten machen
mehr als nachdenklich: Erdogan kommt aus ärmsten Verhältnissen, wurde früh
politisiert und gehörte von Anbeginn an zur Rechtsaußenfront der Islamisten. Er
war der Kronprinz des Führers der »Grauen Wölfe«, Necmettin Erbakan (dessen
Neffe Mehmet Sabri Erbakan in Deutschland Gründer und bis 2002 Vorsitzender von
Milli Görüs war). 1997 wurde Erdogan Bürgermeister von Istanbul und hatte
nichts Eiligeres zu tun, als getrennte Busse und Badeanstalten für Männer und
Frauen sowie ein Alkoholverbot zu planen - und das Kopftuchverbot in Schulen,
Universitäten und öffentlichen Ämtern abschaffen zu wollen.
Seit Kemal Atatürk (1881-1938) hat die Türkei eine so
strenge Trennung von Staat und Religion wie Frankreich, strenger als das nach
1945 schlechtgewissige, halbherzige Deutschland. Der Garant für die Einhaltung
dieser Trennung war bisher das Militär. Ohne die Generäle wäre die Türkei
vermutlich schon in den Händen der populären Islamisten. Denn auch wenn die
Mehrheit der Bevölkerung gegen einen Gottesstaat zu sein scheint, gibt es eine
beunruhigende Kluft zwischen der aufgeklärten Stadt- und der unaufgeklärten
Landbevölkerung, dem modernen Westen und dem archaischen Osten und Norden des
Landes.
Erdogan selbst hat nie ein Geheimnis
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