Schwarzer, Alice
Mehrheitsgesellschaft
wird in den nächsten Jahren immer offener zutage treten, denn die religiöse
Orientierung von Muslimen in Deutschland nimmt zu und mit ihr die Tendenz zur
Abgrenzung von »Ungläubigen«. Die regelmäßigen Untersuchungen des Essener
Zentrums für Türkeistudien über die religiöse Bindung türkischstämmiger
Migranten belegen eindrucksvolle Verschiebungen. Während sich beispielsweise
noch im Jahr 2000 nur acht Prozent der Befragten als »streng religiös«
bezeichneten, waren es 2005 bereits 28 Prozent. Im selben Zeitraum stieg der
Anteil der muslimischen Befürworterinnen des Kopftuchtragens in der
Öffentlichkeit von 27 auf 47 Prozent! Jeder vierte Befragte findet es aber auch
»schwierig bis sehr schwierig«, als Muslim in einem christlich geprägten Land
zu leben; je religiöser, umso schwieriger. Je ausschließlicher man sich an der
Scharia als dem umfassenden islamrechtlichen Regelwerk für das religiöse und weltliche
Leben ausrichtet, desto schwieriger und weniger erstrebenswert wird in der Tat
die Integration in eine andersgläubige Gesellschaft. Muslime wissen das schon
lange, wir könnten es auch langsam merken.
Die immer deutlicher sichtbare Präsenz muslimischer Kleidung
im deutschen Straßenbild spiegelt eine Entwicklung, die auch in den islamischen
Kernländern zu beobachten ist. Die strenge Befolgung der traditionellen
Kleidungsvorschriften erscheint mehr denn je als Inbegriff und Gradmesser der
richtigen islamischen Orientierung einer Gesellschaft und wird in diesem Sinne
propagiert und instrumentalisiert.
In Korankommentaren und religiösen Schriften aller Art, in
Fatwas, den religiösen Gutachten, Predigten und im Internet wird mit großer
Leidenschaft die islamische Kleidung der Frau als Inbegriff ihres Schutzes und
ihrer Würde propagiert, die Alternativen des Westens hingegen gelten als
ruchlos und schändlich. So wird heute auch mitten in Deutschland gepredigt,
geschrieben und gedacht. Von der uns gerne suggerierten »freien Entscheidung«
von Mädchen und Frauen für oder gegen das Kopftuchtragen keine Spur. Durchweg
wird die islamische Bekleidung der Frau als unverzichtbare religiöse Pflicht
dargestellt, wer sie bezweifelt, wird mit Vorwürfen und Drohungen überhäuft.
Ein Wortwechsel im Internetforum des Stern zeigt das sehr anschaulich: >Nurtenu< schreibt unter
dem Titel >Meine Meinung als Muslimin<: »Ich bin absolut für ein
Kopftuchverbot an staatlichen Schulen. Im Koran steht nichts von einem
Kopftuch.« Kaum eine Stunde später kommt die Antwort von >Splitter<: »Ich
bezweifle, dass du eine Muslimin bist!!!... Allah (der einzige Gott, an den
alle Religionen glauben) möge deiner verdorbenen Seele gnädig sein.« Leider ist
diese Art des Umgangs mit Andersdenkenden und Kritikerinnen nicht untypisch;
zuletzt sah sich die grüne Bundestagsabgeordnete Ekin Deligöz massiven Drohungen
ausgesetzt, nachdem sie die Musliminnen aufgefordert hatte: Legt das Kopftuch
ab!
Tatsächlich wüsste auch ich trotz meiner langjährigen
Beschäftigung mit dem Thema nicht, in welcher Moschee, von welchen Gelehrten
oder in welcher religiösen Literatur Mädchen und Frauen die persönliche
Entscheidungsfreiheit in der Frage ihrer Kleidung zugestanden würde,
geschweige denn, wo Eltern ermutigt werden, ihre Töchter zur
Entscheidungsfähigkeit zu erziehen und in ihrer persönlichen Freiheit zu
respektieren. So wird auch die verschleierte Lehrerin als Vorbild ihrer jungen
Glaubensschwestern instrumentalisiert, gerade auch gegenüber denjenigen Mädchen,
die sich mühsam von diesem Zwang befreit haben.
Eine Fülle weiterer Vorschriften regelt die Stellung der
Musliminnen in Familie und Gesellschaft sowie die Möglichkeiten und Grenzen
einer persönlichen Lebensgestaltung. Dabei werden zwei Dinge klar: nämlich,
dass die Frau nicht rechtlos, aber auch nicht gleichberechtigt ist. Die
skizzierten Regeln sind keinesfalls extremistische Auswüchse, sondern
unmittelbar auf den Koran rückführbar und entstammen der orthodoxen islamischen
Lehre, die das geltende Gesetz in fast allen islamischen Ländern bis heute
prägt und auch in unseren Breitengraden zunehmend an Bedeutung gewinnt.
In dem Bestreben, Anschluss an die Errungenschaften und
den Wohlstand der westlichen Zivilisation zu erlangen, durchliefen viele islamische
Nationalstaaten im vergangenen Jahrhundert einen umfassenden Reformprozess.
Allein das Familienrecht, das vor allem die Frauen betrifft, blieb dabei
weitgehend
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