Schwarzer, Alice
unangetastet. So beruhigte man die konservative Geistlichkeit und
konnte sie in anderen Bereichen für Reformen gewinnen - die Opfer dieses
Kuhhandels waren ja nur die Frauen.
Gleichwohl haben Muslime in aller Regel kein Problem damit,
den Islam als den »wahren Befreier der Frau« darzustellen, und verweisen dabei
auf Errungenschaften des Korans gegenüber der vorislamischen Zeit. Es ist
zweifellos gut, wenn der Prophet im 7. Jahrhundert das Töten neugeborener
Mädchen verboten hat, Frauen ein grundsätzliches Erbrecht zugestand und die
Zahl möglicher Ehefrauen begrenzte. Im 21. Jahrhundert allerdings kann man
damit nicht mehr beeindrucken.
Eine grundlegende Reform des islamischen Rechts im Hinblick
auf eine tatsächliche Gleichberechtigung der Geschlechter ist hier und da
angedacht worden, konnte sich aber nicht durchsetzen; heute sind solche
Ansinnen geradezu gefährlich. Für die Mehrzahl gläubiger Muslime trägt die
unterschiedliche rechtliche Behandlung von Mann und Frau ihren jeweiligen von
Gott gegebenen Anlagen und Aufgaben Rechnung und zeugt insofern von höherer
Gerechtigkeit und wahrer Freiheit.
Die Rolle der Frauen im Kampf für die Reinerhaltung oder
Wiedereinführung des islamischen Rechts und Moralkodex geht schon lange über
ihren häuslichen erzieherischen Einfluss hinaus. Mehr denn je sind sie heute
gerade in Deutschland in die Arbeit islamischer und islamistischer
Organisationen eingebunden, nehmen an Veranstaltungen teil, arbeiten in
Frauengruppen mit spezifischen Angeboten und sind in Gremien, Entscheidungsforen
und in der Öffentlichkeitsarbeit vertreten.
Dabei werden besonders gerne Konvertitinnen in Spitzenfunktionen
gesehen, sei es die erwähnte Maryam Brigitte Weiß beim >Zentralrat der
Muslime< in Deutschlands seien es Karimah Körting-Mehran oder Sulaika Kaiser
beim Netzwerk für muslimische Frauen >Huda< und Fatima Grimm bei der
>Deutschen Muslim-Liga<. Als Frauen mit westlich-liberaler Erziehung haben
sie sich für das Kopftuch und die islamische Lebensweise entschieden; eine
bessere Propaganda kann es kaum geben. Auch wenn sie in einschlägigen
Organisationen noch weit weniger einflussreich sind als die Männer, so ist die
Relevanz der Frauen für die Stärkung und Verbreitung muslimischen und
islamistischen Gedankengutes jedoch nicht zu unterschätzen.
Die Bekenntnisse und Lebensentwürfe von Islamistinnen lassen
neben großer Leidenschaft für die Sache ein deutliches Überlegenheitsgefühl
gegenüber Nichtmusliminnen, aber auch gegenüber liberalen Musliminnen
erkennen. Vehement bestehen sie darauf, dass der Koran ihnen alle Rechte gibt
und sie mehr als jede andere Religion in ihrer einzigartigen Würde und den
daraus resultierenden Aufgaben anerkennt. Jede andere Einschätzung wird in das
Reich der Klischees und Vorurteile verbannt.
An vorderster Front kämpfen Konvertitinnen und orthodoxe
Musliminnen um die Akzeptanz islamischer Kleidung in allen Lebensbereichen und
für die Befreiung muslimischer Mädchen vom koedukativen Sport- und
Schwimmunterricht. Ihr Bestreben reduziert sich aber keinesfalls auf die
Durchsetzung islamrechtlicher Vorstellungen für Frau und Familie, sondern - im
Glauben an die Scharia - auf nahezu alle Geltungsbereiche, denen es in der
Diaspora Anerkennung zu verschaffen gilt.
In den letzten Jahren ist eine eigene Disziplin der Rechtsauslegung
für muslimische Minderheiten entstanden, die aber gemäß der muslimischen Mehrheit
eine in aller Regel konservative, oftmals auch fundamentalistische
Grundtendenz aufweist und sich vielfach liest wie eine Anleitung zur
Parallelgesellschaft.
Kompromisse werden im Einzelfall gemacht, um den Islam in
der Diaspora lebbar zu machen. So darf man zum Beispiel in einem Restaurant
arbeiten, in dem Schweinefleisch serviert wird, wenn man trotz aller Bemühungen
keine Alternative findet, um die Familie zu ernähren. In der Regel geht es aber
um die maximale Anwendung islamischer Grundsätze in einer andersgläubigen
Umgebung, um Bewahrung der »muslimischen Identität« und die Steigerung der
Akzeptanz islamischer Lebensweise in Europa.
Wer die Scharia umfassend befolgt, wird kaum Berührungspunkte
mit der einheimischen Gesellschaft haben. Neben dem handfesten parallelen
islamischen Lebensmittelhandel entstehen ideelle Bereiche, die fundamentale
Grundwerte unserer Kultur und Gesellschaft - wie die Gleichberechtigung der
Geschlechter, die Unabhängigkeit menschlicher Würde von der Religionszugehörigkeit
oder das
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