Schwarzer, Alice
aus seinen Positionen
gemacht. Noch als Istanbuler Bürgermeister erklärte er: »Gott sei Dank bin ich
für die Scharia« und: »Man kann nicht gleichzeitig Säkularist und Moslem
sein«. Und er ging noch weiter, zitierte öffentlich folgende Gedichtzeilen:
»Die Moscheen sind unsere Kasernen/Die Kuppeln unsere Helme/Die Minarette
unsere Bajonette/Und die Gläubigen unsere Soldaten.«
Das brachte das Fass zum Überlaufen. Erdogan wurde zu drei
Monaten Gefängnis wegen »Volksverhetzung« verurteilt, die er 1999 antrat. Bei
seiner Entlassung schien er vom Saulus zum Paulus gewandelt. Religion sei Privatsache,
erklärte er nun, was zähle, sei die Wirtschaft.
Erdogan gründet die AKP (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung)
und gewann 2002 die Wahlen. Unter seiner Präsidentschaft wurde ein rasanter
Reformprozess eingeleitet, der in fast allen Punkten den Forderungen der EU
Genüge tat, zumindest auf dem Papier: die Abschaffung von Folter und
Todesstrafe, eine weitreichende Strafrechtsreform, die Meinungs- und Versammlungsfreiheit
sowie kulturelle Rechte für Kurden und andere Minderheiten. Nur von den
Rechten der Frauen war bei den Verhandlungen kaum die Rede, sie standen im
Kleingedruckten.
Ob diese Gesetze nun auch mit dem gebotenen Nachdruck in
die Sitten und Rechtsprechung umgesetzt werden, bleibt abzuwarten. Erdogan
persönlich blieb auf jeden Fall seiner stramm fundamentalistischen Linie treu:
Seine Frau und seine beiden Töchter sind islamistisch verschleiert (also mit
dem schwarzen Abbindetuch noch unter dem Kopftuch) und sein Sohn hat jüngst mit
Sondererlaubnis in einer arrangierten Ehe eine 16-Jährige geheiratet
(Jungfrauengarantie inbegriffen, Verschleierung selbstverständlich).
Kein Wunder, dass sich gerade die Fortschrittlichen und
Feministinnen in der Türkei viele Fragen stellen. Was nutzt der Türkei heute
mehr? Ein windiges Beitritts-Versprechen, das so mancher Befürworter nur nährt,
weil er davon profitiert - das aber gleichzeitig Erdogans Macht stärkt? Oder
eine Art »privilegierte Partnerschaft«, bei der die Interessen an den Menschen
in der Türkei und einem wirklichen Demokratisierungsprozess an erster Stelle
stehen?
Vom guten alten Europa, das mit der Osterweiterung gerade
den Mund schon sowieso ein bisschen sehr voll genommen hat und den Brocken erst
verdauen muss, ganz zu schweigen. Doch jenseits aller aktuellen Positionen von
Pro & Contra verläuft die wahre Linie keineswegs zwischen Türken und
Deutschen, sondern zwischen Demokratinnen und Demagoginnen. ■ EMMA
6/2004
RITA BREUER / DIE ENTFREMDUNG WIRD GRÖSSER
Als nach den Sommerferien 2006 eine Reihe muslimischer
Lehrerinnen in NRW mit Kopftuch zum Dienst erschienen, war die hitzige Debatte
um dieses symbolträchtige Stück Stoff schon einige Jahre alt. Und doch war an
diesem Tag etwas anders, denn seit Inkrafttreten des neuen Schulgesetzes am 1.
August 2006 bedeutet das Verhalten dieser Lehrerinnen einen Verstoß gegen
geltendes Gesetz. Das ist insofern delikat, als gerade die in traditionellen
Verbänden organisierten Musliminnen und Muslime sich gerne wortreich zur
hiesigen Verfassung bekennen und willens geben, sich den geltenden Gesetzen zu
beugen.
Mehr noch: Sie stellen diese Unterordnung unter das Gesetz
des >Gastlandes< als etwas dar, das ihnen der Islam geradezu gebiete.
Nun aber zeigt sich, dass dieses Gesetz für manche eben nur gilt, solange es
nicht ihrem eigenen Kodex - der Scharia - widerspricht. Die Frauenbeauftragte
des Zentralrats der Muslime in Deutschland, die Konvertitin und
Hauptschullehrerin Maryam Brigitte Weiß, hatte bereits Monate zuvor im Streit
um die Burka an einer Bonner Schule ihre Scharia-Treue in einer Deutlichkeit
formuliert, die keine Zweifel lässt: »Das Letzte, was ich tun würde, wäre
Zugeständnisse an eine Gesellschaft zu machen, wenn ich damit gegen Grundsätze
meiner Religion verstoßen müsste!« Ein »korrekt« gebundenes Kopftuch mit einem
langen weiten Mantel fordert die deutsche Lehrerin und redet so der orthodoxen
islamischen Lehre das Wort, nach der die Frau nur Gesicht, Hände und Füße
unbedeckt lassen darf. Mancherorts gehen religiöse Eiferer mit Handschuhen,
Gesichtsschleier oder eben der Burka noch einen Schritt weiter. Für Maryam
Brigitte Weiß ist diese Vollverschleierung im Islam weder ge- noch verboten;
die Entscheidung zwischen Kopftuch und Gesichtsschleier liege im freien(!)
Ermessen der Frau.
Der Konflikt zwischen Islam und demokratischer
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