Schwarzer, Alice
Dörfern. Später erfahre ich, dass die
Regierung die Häuser niederwalzen ließ, weil sie ohne Genehmigung gebaut
worden waren. Weiter hinten stehen Hochhäuser, dorthin hat man die Bewohner
umgesiedelt. So direkt an der Straße, erzählt man mir, hätten die Slumviertel
den Besuchern kein gutes Bild von der Türkei abgegeben.
Ich lese weiter. In einem Stall wird die junge Meryem von
ihrer Familie gefangen gehalten. Der Chef des Clans, ihr Onkel, hat sie
vergewaltigt, und das ist herausgekommen. Jetzt soll sie sterben, damit die
»Ehre« der Familie wiederhergestellt wird. Die Tat ausführen soll ihr Cousin,
der vom Militär zurückkehrende Cemal. Er zögert und weiß nicht, wie er es
machen soll. Er geht mit der Cousine erst einmal los, Richtung Istanbul.
Ich bin nach zwei Jahren erstmals wieder in der Türkei.
Ich besuche meinen Onkel, er ist sehr krank und möchte mich »noch einmal
sehen«, wie er am Telefon sagte. Er und meine Tante freuen sich sehr, mich
wiederzusehen. Am nächsten Tag begleite ich ihn ins Krankenhaus. Er bekommt
gerade eine Chemotherapie. Wir sind früh dort. Es ist schon morgens warm, und
die Schlange vor dem Krankenhaus ist lang. Da es in der Türkei keine niedergelassenen
Ärzte gibt, müssen alle Kranken, wenn sie sich keine Privatärzte leisten
können, ins Krankenhaus.
Inzwischen ist es Mittag, die Infusion dauert dreißig Minuten.
Die Kranken müssen in Begleitung kommen, weil es zu wenige Krankenschwestern
gibt. Ich warte mit den anderen auf dem Flur, bis mein Onkel fertig ist. Die
Infusionskanüle steckt noch in seinem Arm. Für den nächsten Tag. Die Therapie
dauert zehn Tage, danach zehn Tage Pause, dann wieder zehn Tage. Zu Hause ist
ihm schwindlig, er muss sich übergeben und er schläft am Nachmittag. Bis das
Telefon klingelt.
Entweder klingelt das Telefon oder Besuch steht direkt vor
der Tür: Verwandte, Nachbarn, Freunde, frühere Kollegen fragen, wie es ihm
geht. Die Kollegen sind ihm besonders wichtig, er war dreißig Jahre
Museumsdirektor in Ankara. Wenn sie nicht anrufen würden, wäre er sehr
beleidigt. Das gehört zu unserer Kultur, sagt er, dass man sich um die Kranken
kümmert. Also zehnmal am Tag dieselbe Geschichte von Kanülen, Diagnose,
Therapie und gute Wünsche.
Am Abend wird gemeinsam gegessen und getrunken und nur
über das eine Thema gesprochen. Meine Tante hat eingekauft, aufgeräumt und für
den Nachmittags- und Abendbesuch Gebäck und Baklava gebacken. Sie bedient den
Besuch. Ihre älteste Tochter ist berufstätig und hat gerade ein Baby bekommen.
Es ist selbstverständlich, dass die Familie auch die Versorgung der Kinder
übernimmt, also in diesem Fall die Oma.
Es gibt kaum Kindergärten für berufstätige Frauen. Die
wenigen, die es gibt, leisten sich die bürgerlichen Frauen. So hat meine Tante
neben ihrem krebskranken Mann auch das Neugeborene zu versorgen. Auf dem einen
Arm trägt sie das Kind und mit der anderen Hand das Tablett mit den Teegläsern
für die Gäste. Zur Geburt, sagt sie, wären an einem Tag zwanzig Gäste auf
einmal gekommen, und der Besucherstrom hätte Wochen gedauert. Alle wollten die
Großeltern beglückwünschen. Als Gastgeschenk bekam das Mädchen Goldreifen,
Goldkettchen, für ihre Hochzeit, später. Als Besuch aus Deutschland war ich
natürlich der Höhepunkt des bisherigen Krankheitsverlaufs.
Zwei Tage später sitze ich in einem der komfortablen Überlandbusse
Richtung Istanbul. Auch die Helden meines Romans sind auf dem Weg nach
Istanbul. Aber der Sohn, der die Schande für seinen Vater ausbügeln soll, traut
sich nicht, seine Cousine umzubringen. Sie sitzen in einem Bus, und beide sehen
zum ersten Mal den Bosporus, das Meer und die Hagia Sophia, wenn auch nur von
Weitem.
Ich mag die Raststätten der türkischen Überlandstraßen. Jeder
Bus hat seine Haltestelle. Das Essen ist dort immer lecker, günstig und die
Reise ist wesentlich komfortabler als mit der Eisenbahn, die seit 1923 ihre
Geschwindigkeit nicht erhöht hat und noch mit den alten Waggons der Bagdadbahn
fährt. Mit Livanelis Buch auf dem Schoß fahre ich in die Stadt ein und sehe sie
mit den Augen meiner Romanhelden.
Der Stadtteil Cihangir ist für Istanbul so etwas wie Mitte
für Berlin. Musikkneipen, Galerien, internationales Flair. Viele junge Leute,
»Enteis«, Intellektuelle, wie man dort sagt, also Menschen, die in Zeitungen,
Instituten und Agenturen arbeiten, wohnen hier. Im >Leyla<, einem
In-Cafe, trinke ich für 4,50 Türkische Lira (3,50 Euro)
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