Schwarzer, Alice
liefert
das Geld in der Familie ab.
Die Frauen der Familie bereiten in der Küche das Essen. Im
Laufe des Gesprächs kommt ein Cousin und Onkel nach dem anderen in den großen,
nur mit einem Teppich ausgelegten Raum und setzt sich in die Reihe zu den
anderen an die Wand, um ihrem Abi zuzuhören, der mir, der Abla, der großen
Schwester aus Almanya, erklärt, wie die Türkei eine islamische Republik werden
könnte.
Er stellt mir seine Töchter vor. Die Älteste ist vierzehn
und wird in diesem Jahr die Schule beenden. Ich frage sie, was sie danach
vorhat. Schüchtern sagt sie, ihre Lehrerin hätte vorgeschlagen, dass sie auf
das Gymnasium gehen solle. Ich sehe den Vater an und frage ihn: »Wird sie zur
Schule gehen?« Er lacht und sagt, auf der Koranschule lerne man alles für das
Leben und »Allah weiß, was er für Pläne hat«.
Ich schätze, etwa fünf der zwölf Millionen Einwohnerinnen
in der Großregion Istanbul leben in solchen Slums. Doch die Menschen in
Cihangir, in Moda und den Villen entlang des Bosporus ignorieren sie. Es gibt
hier die Dörfler, gleich Islamisten - und da die Intellektuellen und säkularen
Bürgerlichen. Dort die mittelalterliche Tracht, hier der letzte Chic.
Wir in Deutschland beklagen, dass sich die Migrantinnen in
eine Parallelwelt zurückziehen, in Istanbul ist das die Norm. Nur dass sich
hier die säkulare, westlich orientierte Gesellschaft auf ihre Wohlstandsinseln,
in bewachte Shopping-Malis und In-Cafes zurückzieht, der Muezzin mit dem iPod
übertönt und so getan wird, als könne man die Probleme einfach ignorieren. Aber
die Islamisierung des Alltags schreitet voran. War vor Beginn der islamischen
Revolution im Iran kaum eine Frau in Istanbul verschleiert, sind es heute zwei
von drei.
Im September 2006 hat der oberste >Kontrollrat< des
Staatspräsidenten Sezer, eigentlich ein Vertreter des Laizismus, einen Bericht
vorgelegt, wonach Türken, die keine Muslime sind, nicht als Türken, sondern als
Ausländer gelten. Die Empörung darüber hielt sich in Grenzen. Die Opposition
ist schwach.
Noch Schlimmeres ist zu erwarten, wenn das von Erdogans
AKP dominierte Parlament im April einen neuen Staatspräsidenten wählen wird.
Wenn dies, wie zu befürchten, ein AKP-naher Repräsentant - vielleicht sogar
Erdogan selbst - wird, dann gerät auch die letzte republikanische Bastion, das
Militär, ins Wanken. Man wird als Erstes das Kopftuchverbot an Universitäten
und in den Behörden abschaffen, den nationalen Sicherheitsrat auflösen oder
zumindest versuchen, die Autonomie des Militärs zu beschränken. Die
demokratische Legitimation dafür - Mehrheit im Parlament und Unterschrift des
Staatspräsidenten - wäre vorhanden.
Bis dahin setzt die AKP, die islamistische >Partei für
Gerechtigkeit und Entwicklung< des Ministerpräsidenten Tayyip Erdogan, auf
die Islamisierung des Alltags. Prof. Dr. Halis Ayhan, an der Marmara Universität
zuständig für religiöse Erziehung, Ethik und Kultur, erklärte schon 2004 in der
Zeitung Vakit: »Wichtig
ist, dass das Kind von Geburt an mit dem Ruf des Muezzins aufwächst. Und jedes
Mal, wenn die Eltern das Kind auf den Arm nehmen, sollten sie dem Kind das
Glaubensbekenntnis ins Ohr sprechen. So ist gewährleistet, dass sein Leben
islamisch geprägt wird.«
Im Jahr 2006 gibt es keinen Stadtteil, keinen Wohnblock,
in dessen unmittelbarer Nähe nicht eine Moschee steht. Morgens vor
Sonnenaufgang ruft der Muezzin durchs Megafon zum Gebet. Und ganz gleich, ob
Muslim, Christ oder Atheist, alle bekommen zu hören, dass es nur einen Gott
gibt und Mohammed sein Prophet ist.
Die Folgen dieser Propaganda sind schon heute überall
spürbar. Keiner bekommt mehr eine Lizenz für eine Autobahnraststätte oder
einen Vergnügungsdampfer, wenn er nicht Gebetsräume einrichtet, oder wer Pilot
bei der staatlichen >Turkish Airlines< werden will, der hat als
AKP-Mitglied beste Chancen.
Ich erinnere mich an mein Leben in Istanbul. »Ich muss heute
nach Eyüp!«, verkündete meine Mutter beim Frühstück. Sie hatte von ihrem Vater
geträumt, den sie seit ihrem Fortgang aus dem Dorf nicht mehr gesehen hatte.
»Ich muss heute für ihn beten, Neda nehme ich mit!« Nachdem meine Mutter ihre
Haare von Lockenwicklern befreit und ein dezentes Kostüm ausgesucht hatte,
packte sie ein leichtes weißes >Tülbend<, ihre Tasche passend zu den
Schuhen mit den Pfennigabsätzen. Auch ich durfte mein schönstes Kleid aus Organza
anziehen und trug einen breiten Strohhut.
Wir wohnten im
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