Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schwarzer, Alice

Schwarzer, Alice

Titel: Schwarzer, Alice Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die grosse Verschleierung
Vom Netzwerk:
ein Café Latte. Hier
ist niemand verschleiert, keine trägt Kopftuch. Die Gäste sprechen
selbstverständlich Englisch oder Deutsch und unterhalten sich über ihre letzten
Einkäufe in Paris oder den Besuch bei Freunden in Berlin.
    Im Hotel Marmara am Taksimplatz treffe ich mich mit Zehra
Ipßiroglu, einer Professorin für interkulturelle Theaterwissenschaften in
Deutschland. Wir sprechen über ihr Gespräch mit Türkan Saylan, das gerade als
Buch erschienen ist. Türkan Saylan ist Ärztin und seit Jahrzehnten
Bürgerrechtlerin, die Gründerin der Bewegung CYDD (Cagdaß Yaßami Destekleme
Dernegi), der Bewegung für modernes Leben. Sie unterstützen und entwickeln
Projekte im Osten Anatoliens, besonders für Mädchen, die nicht zur Schule
können. In Gebieten, wo die Dörfer keine Schulen haben, haben sie Internate
eingerichtet. Obwohl schwer krank, betreibt Türkan ihre Arbeit mit Leidenschaft
und Energie.
    Es sind diese auf geklärten Frauen, die etwas tun, wie die
Frauenorganisation >Ucan Süpürge< (Fliegende Besen). Die Fliegenden
Besen klären Frauen über Zwangsheirat, Kinderehen und arrangierte Ehen auf und
stellen Kontakte zwischen den Frauen her, entwickeln Netzwerke. Sie geben die
>Ucan Haber< (Fliegende Nachrichten) heraus und haben inzwischen auch
eine Internetseite (auch auf Englisch).
    Im Hotel gibt es kurzzeitig kein Wasser, jemand hat
vergessen, den Tank zu füllen. Ich erfahre, dass eines der großen Probleme der
Stadt der Wasserverbrauch ist. Das Rohrleitungssystem der jeden Tag wachsenden
Stadt ist völlig überlastet und marode. Ein Viertel des Wassers kommt nie im
Kran an.
    Am Nachmittag laufe ich von Beyoglu, dem Genueser Viertel,
hinunter nach Eminönü, dem historischen Teil der Stadt.
    Über die Galatabrücke oder, wie es in Sevgi Özdemars Roman
heißt, »die Brücke zum Goldenen Horn«. Eine dicht gedrängte Menschenmenge
steht und schiebt sich an der Uferpromenade hin und her. Menschen aus allen
Teilen der Türkei. Gruppen von Frauen, tief verschleiert in schwarzen Tschadors
oder nach der neuesten Mode der Islamisten gekleidet, das heißt mit einem
bunten, weit über der Schulter liegenden Kopftuch und in bodenlangem Mantel.
    Die Politik von Tayyip Erdogan spaltet das Land. Die AKP
betreibt mit Unterstützung der armen, dörflich strukturierten Bevölkerung die
Islamisierung des Landes von Grund auf. Sie besetzt Ämter, baut so viele
Moscheen und Koranschulen, dass die Bürgermeister anordneten, dass der Abstand
zwischen zwei Moscheen mindestens einen Kilometer betragen muss.
    Ganze Branchen wurden von den Islamisten vereinnahmt. Es
gibt islamistische Textilfabrikanten, die nur für den Schalvar- und
Türban-Markt produzieren und nur Näher anstellen, die strenggläubig sind. Sie
sind in einem von der AKP-Regierung finanzierten Unternehmerverband organisiert
und finanzieren ihre Geschäfte über eigene Banken.
    Auf dem Basar gibt es einfach alles zu Spottpreisen: von
Elektrogeräten über Spielsachen bis zu Jeans. Vor dem ägyptischen Basar ist es
so voll, dass man nicht mehr vorwärtskommt. Hier sind jetzt alle Frauen
verschleiert, und die wenigen Touristen werden bestaunt und sind das Ziel der
fliegenden Händler.
    Die Ware liegt auf Decken, und jeder versucht seine Ware
anzupreisen. Plötzlich über dem Lärm ein Pfiff aus einer Trillerpfeife. Eine
Gruppe von rund zwanzig Polizisten stürmt auf den Platz. Die Händler raffen
ihre Decken zusammen und verschwinden im Fußgängertunnel oder in einer der
Nebenstraßen. Einen alten Mann erwischt es, er hat keine Lizenz. Mich würde
nicht überraschen, wenn Meryem aus Livanelis Roman mit ihrem Plastikbeutel vor
mir auftauchen würde. Der ganze Platz scheint mir voller Meryems.
    In einem der Gecekondus, wo die Stadtviertel keine Namen
haben und erst Straßen gebaut und Strom verlegt werden, wenn die Häuser längst
stehen, besuche ich eine Familie und spreche mit einem strenggläubigen Muslim
und Kurden, der »wegen einer Familiensache«, also wohl wegen eines Falles von
Blutrache, nach Istanbul fliehen musste. Er ist Mitte dreißig, trägt Bart und
ein kariertes Hemd und arbeitet in einer Fabrik als Näher. Nachdem er die
Stelle hatte, heiratete er seine Cousine aus seinem Dorf, die ihm bereits als
Baby versprochen worden war.
    Dann kamen seine Brüder nach und haben auch geheiratet.
Sie haben zuerst eine Art Garage gebaut und die dann erweitert und aufgestockt.
Jetzt leben sie zu etwa 20 Personen auf drei Etagen. Wer Arbeit hat,

Weitere Kostenlose Bücher