Schwarzer, Alice
du
kannst es wissen.« Einem bärtigen Mann wird das zu viel, er sagt zu seiner
Nachbarin: »Fragt nicht so nach dem Tod, wenn er da ist, ist er da, da kann man
nichts machen. Die Krankheit ist nur ein Vorwand, wenn Gott ruft, bestellt er
den Weg zu sich. Mischt euch nicht ein in Gottes Entscheidungen!«
Ich versuche zu lesen. Vor einigen Wochen habe ich Zülfü
Livaneli, einen ehemals berühmten Sänger und jetzigen Abgeordneten der CHP
(Cumhuriyet Halk Partisi), der Republikanischen Volkspartei, im türkischen
Parlament bei einer Diskussion über Ehrenmorde getroffen. Livaneli trat auf wie
die meisten türkischen Intellektuellen, wenn sie im Ausland sind. Er verteidigt
die Türkei, bezeichnet Ehrenmorde als ein internationales Problem, auch in
Norwegen gäbe es so etwas. Ja, das stimmt, entgegnete ich. Eine afghanische
Frauenrechtlerin war in Norwegen von ihrer Familie umgebracht worden. Ich war
verwirrt. Ich kannte Livaneli doch als streitbaren Linken, der für die Rechte
der Kurden eintrat und eine Stimme der Demokratie und Menschenrechte ist.
Entsprechend skeptisch begann ich in seinem in der Türkei
sehr erfolgreichen Buch zu lesen, das er mir nach dem Treffen geschickt hatte.
Es handelt von drei Menschen auf der Suche nach dem »Glück«, so der Titel des
Romans. Eine junge Frau, die eingesperrt im Schafstall darauf wartet, dass man
sie »nach Istanbul« bringt; der Sohn des Onkels, der in der Armee gegen die
kurdischen Rebellen kämpft; und ein allseits anerkannter Professor, der nachts
in Todesangst erwacht, weil er befürchtet, all seine wissenschaftlichen
Betrügereien würden ans Licht kommen. Das Buch ist spannend. Und immer wenn ich
den Verdacht habe, jetzt kommt doch das übliche Klischee, überrascht Livaneli
mich und stellt das Leben seiner Protagonisten auf den Kopf.
Istanbul ist nicht nur eine Stadt, die niemals schläft, es
ist auch eine Stadt, die nicht endet. Der Blick aus dem Fenster beim
Landeanflug zeigt nur zweierlei: das Marmara-Meer und das Häusermeer. Von
Horizont zu Horizont Häuser. Der Atatürk-Flughafen ist ein großer moderner Glas-Marmor-Palast
mit spiegelnden Fußböden, von der türkischen Architektin Ebru Kantasj
entworfen. Ich muss umsteigen nach Ankara. Vor der Sicherheitskontrolle stehen
die Menschen Schlange. Jeder Zweite telefoniert. Hinter mir ruft jemand in sein
Handy: »Ja, wir sind angekommen und steigen gleich ins Flugzeug. Was macht
unsere Leiche, alles fertig? Wir sind um 17 Uhr in Kayseri!«
Der Tod reist mit. »Danke, lieber Abi (großer Bruder), küsse
deine Hände, lieber Abi, Allah möge dir das Glück schenken, Reichtum geben ...«
Er verabschiedet sich und wendet sich an seine Mitreisenden: »Unsere Leiche ist
bereits gewaschen, Freunde«, sagt er zu seinen Begleitern, etwa einem Dutzend
bärtiger Männer. »Wir können sie heute Abend noch beerdigen.«
Auf der Damentoilette schminkt sich eine junge Frau mit
sehr langen blondierten Haaren vor dem Spiegel. Ihr Handy klingelt, sie ruft:
»Hey Baby! Ja, bin gleich in Ankara, habe unser Essen nicht vergessen. Bis
dann.« Sie trägt eine enge Hüfthose und ein grünes bauchfreies Top. Sie ist
sehr attraktiv und weiß das. Sie knipst ihre Handtasche zu und rauscht auf
ihren ebenfalls grünen Pumps davon.
Die Toiletten sind schmutzig, der Boden ist nicht gewischt
und hinter einer halb geöffneten Tür sehe ich, wie eine Frau mit nackten Füßen
sich hin und her bewegt. Sie versucht, im Toilettenbecken die rituelle
Waschung vor dem Gebet zu machen, das heißt, auch die Füße zu waschen. Ich bin
perplex. »Ist es nicht besser, wenn Sie zu Hause beten?« »Mögen die
Flughafenverantwortlichen in Sünde baden, sie müssen uns Gebetsräume
einrichten«, antwortet sie.
Auf dem Flug nach Ankara bietet sich mir ein neues Bild.
Viele allein reisende Geschäftsleute, Männer wie Frauen. Sie tragen
Aktentaschen, die Frauen in schicken Kostümen und mit großen Sonnenbrillen.
Offenbar der Dernier Cri. Ich lese weiter.
Beeindruckend, wie Livaneli die Landschaften Anatoliens
und die Stadt Istanbul beschreibt. So ganz anders als Pamuk. Pamuk beschreibt
die Vergangenheit, Livaneli die Gegenwart.
Der Flughafen in Ankara liegt weit vor der Stadt. Ich habe
eine Fahrt von zwei Stunden vor mir. Es ist hügelig, die Erde ist rot. Wir
fahren durch kleine verlassene Dörfer und Städte, viele Ruinen und zerstörte
Häuser, nirgendwo Menschen. Unbeschädigt sind nur die Moscheen. Sie stehen fast
nebeneinander, in menschenleeren
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