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Schwarzer, Alice

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Titel: Schwarzer, Alice Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die grosse Verschleierung
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Algerien, sie dürfen nicht verschwiegen werden: die Geschichte des Landes
seit der Unabhängigkeit von Frankreich im Jahre 1962, die brutalen
Militärregime, die Armut, die Arbeitslosigkeit, die Wohnungsnot, die
Identitätskrise. Wir Algerier kämpfen gegen die Missstände in unserem Land,
wir wollen Demokratie.
    Auf der anderen Seite wissen wir aus der Geschichte: Fundamentalistische
Gruppen wie die Muslimbrüder in Ägypten wären ohne Zutun des Westens nicht
entstanden. Dabei ging und geht es immer noch um Öl, Geld und Macht. Der Westen
ist kein Monster, aber wenn wir dafür kämpfen, das Leben von Zivilisten zu
schützen, dann ist Rücksichtnahme fehl am Platz. Der Westen muss mithelfen, den
Fundamentalismus auf der Welt auszurotten.
    Wir haben in unserer Einsamkeit allerdings begriffen, dass
wir unsere Geschichte in die eigenen Hände nehmen müssen. Doch nie haben wir
verstanden, warum uns Europa im Stich ließ. Außer einigen wenigen
Persönlichkeiten, wie Alice Schwarzer, Richard Labeviere, Andre Glucksmann, und
einigen isolierten feministischen Gruppierungen hat sich niemand für uns eingesetzt.
Europa schaute zu, wie wir starben. Mehr noch: Europa sagte, wir wissen nicht,
wer in Algerien tötet.
    Ich bin Parlamentsabgeordnete der Oppositionspartei »Sammlung
für Kultur und Demokratie« (RCD) und damit mitverantwortlich, das Leben meiner
Landleute zu beschützen. Hätte ich die Macht, ich würde es unserer eigenen
Armee verbieten, Fundamentalisten in den Bergen zu bombardieren. Das Risiko,
dass dabei auch Zivilpersonen umkommen, ist zu groß. Dasselbe gilt für eine
westliche Armee, auch wenn sie angeblich im Namen der Menschenrechte kämpft.
    Heute kämpft Europa Seite an Seite mit Amerika gegen den
Terrorismus. Ich will dies nicht bewerten. Auf Präsident Bushs Terrorliste
befinden sich zwei Organisationen, die in Algerien noch immer töten. Sie
verstecken sich in den Bergen. Wir Algerier müssen selbst etwas gegen unsere
Extremisten unternehmen. Ich will in meinem Land keine fremden Armeen sehen,
die unsere Berge bombardieren, so wie in Afghanistan. Wir waren zehn Jahre
lang allein, wir sterben allein. Wir wollen keine Soldaten, keine Bomben.
    In Algerien leben starke Frauen, die mit unglaublichem Mut
ein Ziel verfolgen: Freiheit. Wenn wir unser Leben hergeben müssen, damit
unsere Töchter eine Zukunft haben, dann werden wir es tun.
    ■ EMMA
3/2002 Übersetzung: Claudia Egger
     
    NECLA KELEK / EINE REISE IN DIE FREMDE
HEIMAT
     
    Am Flughafen Berlin-Tegel sind sie bereits. Meine
türkischen Brüder und Schwestern, wie ich sie aus Kreuzberg und Wilhelmsburg
kenne. Viele tragen die islamische Tracht: Kopftücher, lange Mäntel, Röcke über
weite Hosen. Die anderen halten sich abseits. Frauen und Männer in
Geschäftskleidung, allein; meist tragen sie Sonnenbrillen, auch wenn das
Berliner Wetter heute eher grau ist. Sie schweigen. Die anderen haben Kinder
dabei, und auch den kleinen Mädchen haben sie geblümten Stoff um den Kopf
gewickelt. Die Frauen stehen bei den platzenden Koffern und Taschen, die Männer
stehen zusammen, unterhalten sich und zerren an ihren Gebetsketten. Alle reden
türkisch.
    Eine verschleierte Frau spricht eine Frau im Tschador,
etwa sechzig, an, die ihren Oberkörper unablässig hin und her wiegt. Sie sagt:
»Ich hab gehört. Deine Gelin (Schwiegertochter) ist tot. Mein Beileid. Nehmen
Sie sie mit in die Heimat?« Die Frau nickt. »Das ist gut. Machen Sie sich
nichts daraus. Das Leben ist der Tod. Gestern starb bei uns in Kreuzberg ein
junges Mädchen. Als die Mutter ihre Tochter vor dem Fernseher liegen sah, fiel
sie ebenfalls um und starb an einem Herzinfarkt. Beide sind in die Heimat
geflogen, sind von diesem Leben in das wahre Leben zu Allah gegangen. Das Leben
ist ihnen erspart geblieben. Wie alt war Ihre denn?« Die Schwiegermutter weiß
es nicht.
    Etwas weiter weg sitzen zwei junge Mädchen, sie ruft ihnen
zu: »Wie alt war Halise?« »Vierzig!«, rufen sie zurück. »Ja, ja«, sagt sie,
»vor 25 Jahren hatte ich sie geholt, so muss sie nun zurück in die Heimat.
Allah sei Dank sind die Kinder groß. Aber mein Sohn, was soll er nun machen?
Ich werd nun wieder sehen müssen.«
    Im Flugzeug der Turkish Airlines, irgendwo über Europa.
Eine Frau ruft nach vorn: »Wie alt war sie?« »Fünfunddreißig!«, ruft eine
andere zurück. »Plötzlich war sie tot. Auch ihre Tochter ist gestorben und
ihre Schwägerin.« Da seufzt die Erste ganz laut: »Oh Allah, oh Allah, nur

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