Schwarzer, Alice
asiatischen Teil von Istanbul, in Kadiköy.
Der Weg auf die europäische Seite war Mitte der Sechzigerjahre eine kleine
Reise. Erst mit dem >Tramvay<, der Straßenbahn bis zum Hafen, dann mit
der Fähre über den Bosporus nach Eminönü und weiter mit einem Boot das Goldene Horn
entlang nach Eyüp.
Eyüp ist ein Wallfahrtsort mit der ältesten Moschee
Istanbuls, dem Mausoleum des Bannerträgers Mohammeds, Eyüp Ensari, und dem auf
einem Hügel liegenden ältesten Friedhof der Stadt. Dort angekommen kaufte meine
Mutter ein paar weiße Kerzen, legte das Kopftuch um, stellte sich zum Sarkophag
im Mausoleum des Heiligen, zündete Kerzen an und betete für ihren Vater und
für ihre Familie, die sie seit Jahren nicht gesehen hatte. Nach dem Gebet kam
das Tuch wieder in die Tasche, und wir gingen im Café >Pierre Lotti< Tee
trinken, genossen unsere mitgebrachten Sandwiches und den Blick über das
Goldene Horn.
40 Jahre später stehe ich wieder am Pier von Eminönü am
Bosporus. Mit Freunden miete ich ein Boot, das uns nach Eyüp bringen soll. Ich
beschließe, mir nun endlich ein Foto von Ära Güler zu kaufen, jenem Fotografen
Istanbuls, der wie kein anderer »hüzün« - das Gefühl Istanbuls - eingefangen
hat.
In Eyüp, rechts und links der kleinen Straßen, stehen
Buden mit religiösen Artikeln. Grüne Fahnen, das blaue Auge Fatimas gegen den
bösen Blick, Schmuckketten mit Koransuren. Viele Geschäfte bieten Kassetten und
CDs mit religiösen Liedern sowie religiöse Kleidung. Aus den Lautsprechern der
Läden hören wir religiöse Gesänge und Predigten bekannter Vorbeter.
Es ist Sonntag und viele Familien nutzen diesen Tag, die
heilige Stätte zu besuchen und zu beten. Die alte Moschee ist überfüllt,
Frauen ist der Zugang verboten. Im Hof der Moschee, hinter einer provisorischen
Absperrung, hocken etwa hundert verschleierte Frauen auf den Knien und beten.
Sie haben ihre kleinen Gebetsteppiche mitgebracht und sitzen auf dem Boden. Der
Imam ruft aus dem Lautsprecher: »Allah möchte, dass ihr für ihn betet, dass ihr
eure Pflicht ihm gegenüber niemals vergesst ...« Das Gedränge ist groß, Frauen
verteilen an Passanten Würfelzucker und Kinder füttern die Tauben. Nichts mehr
von der Gelassenheit und Einkehr, die meine Erinnerung mit Eyüp verbindet.
Wird Cemal Meryem umbringen? Das Glück, Istanbul zu sehen,
währt im Roman nur kurz. Auf der Suche nach Cemals älterem Bruder geraten sie
in ein von der Welt verlassenes Viertel, wo die Polizei nur noch Extremisten
vermutet. Und Meryem spürt, was mit ihr geschehen soll. Cemal stößt sie einen
Berg hinunter und bricht anschließend weinend zusammen. Meryem überlebt durch
einen Zufall und tröstet den Cousin. Der Professor segelt inzwischen in der
Agäis und versucht, seine Nöte in Alkohol zu ertränken.
In Florya, einem der schönsten Istanbuler Badestrände,
nehme ich an einem Hochzeitsessen teil. Der Ort, noch in den Sechzigerjahren
ein Sinnbild für die neue Bürgerlichkeit und das moderne Leben, hat sich
verändert. Die Villen stehen noch, aber die staatlichen Erholungsheime sind von
Aktivisten der AKP (Adalet ve Kalkinma Partisi) übernommen worden. Und nun
beherrschen der lange Mantel und der Turban das
Strandleben, gehen die Islamisten, wie damals die Studenten, demonstrativ an
den Villen vorbei, so als wollten sie sagen: Bald werden wir dort wohnen.
Mitten beim Familienessen der Braut - als der Muezzin der
nahen Moschee ruft - stehen die gläubigen Mitglieder der Familie auf und
ziehen sich in getrennte Räume zum Beten zurück. Die Hochzeitsfeier findet
abends nach Geschlechtern getrennt statt. Als ein technisch versierter junger
Mann ins Frauenzelt kommen muss, um die Musikanlage zu reparieren, verbergen
die meisten Frauen ihr Haar unter einem Kopftuch. Eine Frau bleibt ruhig
sitzen. Als ich sie frage, warum sie keinen Schleier anlegt, sagt sie: »Ich
trage eine Perücke.«
Der Vater der Braut ist ein Lebensmittel-Fabrikant. Er hat
mithilfe der 1KB (Islam Kalkinma Bankasi), einer islamischen Bank, die Firma
gegründet. Er und seine Geschäftsfreunde profitieren von dieser Bank, die nur
bekennenden Muslimen Kredite gibt. Die Islamisten haben einen eigenen
Wirtschaftskreislauf aufgebaut. Dank der Unterstützung der AKP gibt es einen
staatlich mit elf Millionen Dollar pro Jahr geförderten Unternehmerverband,
den Islam Özel Sektor Destekleme Kurumu. Sein Ziel ist es, die Wirtschaft zu
islamisieren.
Die republikanische CHP (Cumhuriyet Halk Partisi)
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