Schwarzer, Alice
intervenierte das Militär,
erklärte die Wahlen für ungültig und verschob nachfolgende Wahlgänge. Der FIS
griff zu den Waffen, das Land stürzte in einen Bürgerkrieg.
Am 11. September 2001 saßen alle Algerier vor dem Fernseher.
Wir sahen, wie der Terror, der seit zehn Jahren bei uns tobt, auf Amerika
übergriff. Und wir alle haben mit den Amerikanern gefühlt. Aber: Nie hat man
sich für uns Zivilisten in Algerien interessiert, und nun sollen wir mit den
Amerikanern den Terror bekämpfen. Wie soll ein Volk, das während zehn Jahren
unbeachtet unter schlimmerem Terror litt, dem Westen glauben, wenn dieser von
Menschenrechten spricht? Wir glauben ihm nicht mehr. Der 11. September hat uns
nämlich gelehrt, dass es nicht um Menschenrechte geht, sondern um die Rechte
des Westens. Ich will nicht provozieren, aber das ist ebenso wahr wie
schrecklich.
Die Reaktion des Westens auf den 11. September hat
zwischen meinem Volk und Europa einen Abgrund aufgetan, der nur sehr schwer
wieder zu beseitigen sein wird. Das Drama meines Landes hat etwas
Allgemeingültiges: Wenn man die Schrecken sieht, unter denen ein fremdes Volk
leidet, kann man nur mitfühlen, wenn man sich an die Schrecken der eigenen
Geschichte erinnert.
In Algerien hofften wir, dass die Welt nach dem 11. September
begreifen würde, was wir so lange erduldeten. Und was hören wir einige Tage
später? Die Terrorattacken in New York seien ein Zusammenprall der
Zivilisationen. Wir halten sehr viel vom Westen, gerade deshalb frage ich mich,
wie die Mächtigen einer derart hoch entwickelten Gesellschaft solche Ungeheuerlichkeiten
sagen können. Wer von einem Zusammenprall der Zivilisationen spricht, geht
davon aus, dass mindestens zwei Zivilisationen existieren. Es gibt jedoch nur
eine einzige menschliche Zivilisation!
Die Geschichte ist keine gerade Linie, der Westen hat von
uns genommen, und wir haben vom Westen genommen. Die griechische Philosophie
zum Beispiel, die als Basis der westlichen Kultur gilt, wurde von den Arabern
übersetzt und verbreitet. Die menschliche Zivilisation ist vielseitig, reich
und differenziert, und es gibt nur eine einzige.
Die Europäer sollten aus eigener Erfahrung wissen, wie es
ist, in einem totalitären Staat zu leben. Wir Frauen und Oppositionspolitiker
wussten schon vor zehn Jahren, dass die Fundamentalisten finanziell und
logistisch von außen unterstützt werden. Geglaubt hat uns niemand. Man hielt
uns für Verrückte, die überall Feinde sehen. Erst seit dem 11. September sind
wir mit unseren Ansichten nicht mehr allein.
Die Wahrheit ist: Länder wie Afghanistan und Algerien sind
nicht aus Prinzip fundamentalistisch. Der Fundamentalismus ist kein
grundlegendes Element der muslimischen Kultur. Ich möchte allen Ausländern am
liebsten meine Eltern vorstellen. Meine Eltern, die meiner Ansicht nach zu den
besten Menschen der Welt gehören, weil sie alles taten, damit ich eine gute
Ausbildung erhielt und frei leben konnte. Und dennoch sind sie gute Muslime.
Die Frauen, die in Algerien gegen den Fundamentalismus
kämpfen, tun dies als muslimische Frauen. Sie lieben Freiheit und Demokratie
ebenso wie die Frauen in Europa. Freiheit ist für uns heilig, weil sie die
Grundlage aller anderen Werte darstellt. Unglücklicherweise wurde dies nie
richtig verstanden. Und darum mussten wir Algerierinnen ganz allein gegen ein
schreckliches Monster, den bewaffneten Arm des FIS, kämpfen.
Die Fundamentalisten haben alle dasselbe Ziel: die
Errichtung eines islamischen Staates, der sich auf die Scharia beruft, das islamische
Recht. Die Politik soll der Religion völlig unterworfen werden. Gewalt als
Mittel zur Machtergreifung ist allerdings kein Monopol fundamentalistischer
Parteien. Die Islamische Heilsfront hat zwar diesen Weg gewählt, doch Algerien
hat auch islamische Parteien, die für Demokratie und Pluralismus eintreten.
Der FIS war Anfang der 90er-Jahre gespalten: Eine Fraktion
glaubte an den demokratischen Weg, die andere nicht. Bis heute. Ali Benhadj,
der charismatische Chef des FIS, sagte kürzlich in einem Interview, dass er
nicht an die Demokratie glaube. Wo die Macht des Volkes herrsche, könne Gott
nicht herrschen. In seiner eigenen Logik ist er sehr ehrlich, er sagt genau,
was er will. Deshalb ist er für mich nicht gefährlich. Ich habe mehr Angst vor
denen, die von Menschenrechten und Demokratie reden - und uns Frauen trotzdem
zu Sklavinnen machen.
Es gibt hausgemachte Gründe für den Aufstieg der Fundamentalisten
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