Schwarzer, Alice
entscheide mich für ein Foto der Galatabrücke. Ein Paar geht
in der Abenddämmerung über die Brücke. Er ein Offizier oder Polizist in
Uniform, sie in Hut und Mantel bei ihm untergehakt.
Sie verlassen das alte Istanbul der Moscheen und Minarette
in Richtung Zukunft.
An dem Tag, an dem ich Istanbul wieder verlasse, geht ein
Rechtsanwalt ins Oberste Kammergericht in Ankara und schießt auf die fünf
Richter, die verhindert haben, dass das Kopftuchverbot an Universitäten
aufgehoben wird. Ein Richter stirbt. Staatschef Erdogan sagt im Fernsehen, das
sei die Tat eines Einzeltäters. Er geht nicht zur Beerdigung des ermordeten
Richters.
Ich fliege zurück nach Berlin. Lebend und ohne Kopftuch.
Mich werden sie niemals tot zurücktransportieren. Versprochen. Söz veriyorum. ■ EMMA
2/2007
ALICE SCHWARZER / AYAAN HIRSI ALI: ANLASS ZUR HOFFNUNG
Die nachfolgende Rede hielt Alice Schwarzer
als Laudatorin für Ayaan Hirsi Ali am 1. Oktober 2006, anlässlich der Verleihung
des Kasseler Bürgerpreises.
Wenn man von weit her kommt, macht man manchmal größere
Schritte. Das hat Simone de Beauvoir im Jahr 1969 gesagt - in dem Jahr, in dem
Ayaan Hirsi Magan in Somalia zur Welt kam. Da ist ihr Land geschüttelt von
Bürgerkrieg und Korruption. Ihr Vater sitzt als Oppositionspolitiker im
Gefängnis und flüchtet später ins Exil. Ihre Mutter ist eine orthodoxe Muslima
und kämpft als Hausfrau hart um das Überleben ihrer Kinder. Und die bei ihnen
lebende Großmutter kommt, wie Ayaan sagt, »noch aus der Eisenzeit«: Sie ist
eine Nomadentochter, die den Himmel und den Sand lesen kann. Wird sie gefragt,
wie viele Kinder sie geboren habe, antwortet sie: »Eins.« - Sie hatte einen
Sohn und neun Töchter.
Auf dem vom Postkolonialismus und der beginnenden islamistischen
Agitation erschütterten Kontinent werden Großmutter, Mutter und die drei
Kinder hin und her geworfen. Auf der Flucht aus Somalia landen sie im
islamistischen Saudi-Arabien, wo sie als Frauen nicht mehr ohne Begleitung auf
die Straße gehen können. Von dort geht es nach Äthiopien, wo die somalische
Opposition im Exil ist - und zuletzt in den Sudan, der in Hunger und Blut
versinkt.
Unter diesen Umständen hätte aus Ayaan auch etwas ganz
anderes werden können als die Frau, die wir heute für ihren Mut, ihren Verstand
und ihre Ungebrochenheit schätzen. Ayaan hätte unter den brutalen Schlägen
ihrer Mutter und ihres Koranlehrers tot liegen bleiben können, wie so manche
Freundin. Ayaan hätte an all den Demütigungen, widersprüchlichen Botschaften
und der erlittenen Klitorisverstümmelung verrückt werden können, wie ihre
Schwester. Doch Ayaan wählte die dritte Option: Sie leistete Widerstand. Gegen
den Widerstand aller, auch des Vaters, diesen politischen Widerständler.
Bestärkt worden war Ayaan in dieser Haltung zum einen von
ebendiesem Vater, dessen Liebling sie als Kind gewesen war - bis er sie als
junge Frau zwangsverheiratete. Verführt worden war Ayaan zum Denken und Träumen
von der westlichen Literatur in der Schule. Denn das hatten beide Töchter ihrer
analphabetischen Mutter abgetrotzt: Dass sie zur Schule gehen durften wie der
Bruder. Dort werden die Abenteurerinnen von Enid Blyton und Scarlett O'Hara aus
>Vom Winde verweht< ihre Heldinnen.
Wenn Frauen den Weg der Freiheit gehen, dann kann der
Preis hoch sein. Für die Frauen aus dem muslimischen Kulturkreis ist er heute
so hoch, wie er für uns Westlerinnen vielleicht vor hundert Jahren war.
Widerständige Frauen riskieren: den Verlust der Liebe der eigenen Familie, die
Achtung durch die Gemeinschaft und die Heimatlosigkeit zwischen allen Fronten.
Ayaan Hirsi Ali hat all das riskiert - und einen hohen
Preis bezahlt. »Emanzipation ist ein ganz individueller Prozess«, sagt sie.
»Wir Frauen müssen allein mit unserem schlechten Gewissen klarkommen.« Die
Eltern haben den Kontakt zu ihr abgebrochen.
In ihrer Autobiografie erzählt die Frau mit dem aufrechten
Gang anschaulich ihr Leben: Wie sie 1992 auf dem Weg zu dem nicht gewollten
Ehemann - ein Somalier in Kanada, den ihr Vater für sie ausgesucht hatte - auf
der Zwischenstation in Europa flüchtet. Zunächst geht sie den Weg in die
Freiheit zögernd. In Holland erhält sie Asyl und lernt rasch, dass die bisher
von ihr so verachteten »Ungläubigen« auch Menschen sind. Und dass auch Frauen
Menschen sind. Menschen mit vollen Menschenrechten.
Ayaan nennt sich jetzt Hirsi Ali, damit die rächende
Familie sie nicht aufspürt -
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