Schwarzer, Alice
läuft
dagegen Sturm, nennt das die Einführung der Scharia am Arbeitsplatz. Aber die
AKP hat die Mehrheit im Parlament und setzt die Subvention durch. Die in diesem
Verband zusammengeschlossenen Unternehmer stellen nur Strenggläubige ein, richten
die Arbeitszeiten nach den Gebetszeiten, produzieren Kleidung für den religiös
geprägten Markt, verkaufen ihre Ware in Helal, >reinen< Läden, und
finanzieren sich über eigene Banken.
Als ich versuche, auf dem Großen Bazar in einem dieser Läden
etwas zu kaufen, werde ich nicht bedient. Ich trage kein Kopftuch und bin damit
als unrein erkannt. Es ist, als wäre ich nicht anwesend.
Die besser situierten Muslime gründen gezielt islamische
Schul-Internate, zahlen bis zu 10.000 US-Dollar im Jahr, um ihre Kinder dort
unterzubringen, vergeben Stipendien und versuchen islamische Akademiker für
alle Bereiche auszubilden. Ganz vorne dabei sind die vielfältigen Stiftungen
des Predigers Fetullah Gülen, die gezielt auf Bildung und Religion setzen und
inzwischen mit über 300 Ablegern ein weltweites Netzwerk von Internaten,
Schulen und Studiengemeinschaften betreiben.
In den Augen des Volkes hat die AKP den Gläubigen den Weg
an die Universität geebnet. Bisher konnten die Absolventen der
Imam-Hatip-Schulen, der Koranschulen, nur eine religiöse Fakultät besuchen,
wurden Vorbeter oder Imam. Jetzt berechtigt ihre Kenntnis des Korans und der
Hadithe sie zum Studium aller Fächer. Spreche ich darüber mit Menschen, die dem
Islam kritisch gegenüberstehen, spüre ich Furcht.
Überall, wo die Gelegenheit besteht, werden Posten von der
AKP mit Weggefährten besetzt. So wurde Anfang des Jahres ein Skandal in einem
Kinderheim aufgedeckt. Die Kinder wurden systematisch geschlagen und
misshandelt. Als der Fall untersucht wurde, stellte man fest, dass die
zuständige Behörde in den Jahren zuvor alle Erzieherinnen entlassen und durch
strenggläubige Frauen ohne pädagogische Ausbildung ersetzt hatten. Zum Glück
gibt es noch die demokratische Presse, die solche Dinge aufdeckt, auch wenn sie
ständig unter Druck gesetzt wird.
Die liberale Zeitung Cumhurriyet wurde mehrmals tätlich angegriffen. Auch sind
zurzeit mehrere Autorinnen angeklagt, weil sie in ihren Texten, fiktiv oder
real, die Situation im Land beschreiben oder sich kritisch äußern. Man wirft
ihnen dann »Verrat des Türkentums« vor, eine nach Paragraf 301 der türkischen
Verfassung strafbare Handlung. Das Verfahren gegen Orhan Pamuk wurde
eingestellt, ebenso wie das gegen Elif Shafak und ihren Roman >Vater und
Bastard<.
Da in der Türkei die bürgerliche Schicht sehr klein ist
und unter sich bleibt und die republikanischen Kräfte sich in den letzten
achtzig Jahren politisch aufgerieben haben, gibt es keine starke demokratische Opposition
und Kontrolle. Die Zeitungen des Verlegers Dogan und seine Hürriyet stellen sich der Islamisierung entgegen und
berichten inzwischen täglich über Gewalt gegen Frauen. Engagierte
Frauenorganisationen klagen Menschenrechte ein, engagieren sich gegen
Ehrenmorde usw. Aber das reicht nicht.
Kritisiere ich, die inzwischen Fremde, die Zustände in
meiner alten Heimat, passiert etwas Typisches. Das Kollektiv der Türken macht
die Schotten dicht. Die westlich orientierten Intellektuellen wie Elif Shafak
befürchten, mit der Kritik an den Zuständen in der Türkei würden sich die
Chancen auf einen EU-Beitritt verschlechtern. Das hat bisweilen kuriose
Auswirkungen. So war ich vor einiger Zeit bei einer Anhörung im Bundestag zum Thema
»Zwangsehe«. Die CDU hatte auch die Vertreterin einer türkischen
Menschenrechtsorganisation eingeladen, die sich in Istanbul vehement gegen
Zwangsverheiratungen engagiert. Und was passiert? Zum Erstaunen aller
verteidigt die Frau bei dieser Anhörung die Zustände in ihrem Land. Nach dem
Motto: »Was wir machen, geht euch gar nichts an«.
An meinem zweiten Tag in Istanbul gehe ich ins Café
>Ara<. Es liegt in derselben Straße wie das Goethe-Institut, gleich gegenüber
dem größten Gymnasium, dem Galata-Lise. Der Fotograf Ära Güler hat dort ein
Haus. Auf zwei Etagen zeigt er seine Fotos aus über 50 Jahren Arbeit. Sie
zeigen das untergegangene Istanbul. Vor allem die Schwarz-Weiß-Fotos aus den
Fünfziger- und Sechziger Jahren haben es mir angetan: eine Fähre, die in der
Abendsonne vom Pier wegdreht; ein Fischer, die Zigarette im Mundwinkel, der
über den Bosporus fährt und die Silhouette des historischen Sultanahmet hinter
sich lässt... Ich
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