Schwarzer, Alice
die Unterwanderung des Rechtsstaates durch die Scharia mitten in
Deutschland: Parallelwelten, in denen statt des Grundgesetzes das Gesetz der
Umma gilt; Schulausflüge und Sportunterricht, von denen Mädchen aus »religiösen
Gründen befreit« werden; Sexualkundeunterricht, an dem die Kinder nicht
teilnehmen dürfen, weil es ihren Eltern nicht passt; Lehrerinnen, die unter dem
Kopftuch Flagge zeigen gegen die Gleichheit der Geschlechter. In diesen
Szenarien aus dem deutschen Alltag spielen Konvertitinnen eine zunehmend
bedeutende Rolle.
Die Grundschullehrerin, die Anfang Juli 2006 beim Stuttgarter
Verwaltungsgericht durchsetzte, mit Kopftuch unterrichten zu dürfen, weil
Nonnen an staatlichen Schulen in Baden-Württemberg auch Schleier tragen, ist
eine Konvertitin. Als am 3. März 2006 in Bielefeld über die
Mohammed-Karikaturen diskutiert wurde, saßen als Vertreter der Muslime zwei
Konvertiten auf dem Podium.
Der >Zentralrat der Muslime in Deutschland< (ZMD)
wird seit dem 5. Februar 2006 von einem Konvertiten geleitet; zwei der
stellvertretenden Vorsitzenden sind ebenfalls Konvertitinnen. Seit dem
Sommersemester 2005 werden in Münster erstmals an einer deutschen Universität
Lehrerinnen für den islamischen Religionsunterricht ausgebildet - von einem
Konvertiten. Die »merkwürdige Welt deutscher Kopftuchlehrerinnen«, der die Zeit im Dezember 2003 einen Besuch abstattete, war von Konvertitinnen
bevölkert. Der Geschäftsführer der hoch umstrittenen König Fahad Akadamie in
Bad Godesberg bei Bonn (vor der EMMA schon 1995 warnte) ist Konvertit; ebenso
der Vorsitzende der Muslimischen Akademie in Berlin. Der Herausgeber und der
Chefredakteur der Islamischen Zeitung (IZ) sind
Konvertiten. Und so weiter und so fort.
Es sind viele, wie viele weiß niemand so genau. Denn zum
Islam überzutreten, ist ein unbürokratischer Akt, der sich in keiner offiziellen
Statistik niederschlägt. »Es gibt keinen Gott außer Allah, und Mohammed ist
sein Gesandter.« Dieses auf Arabisch gesprochene Glaubensbekenntnis reicht.
Meist wird es in Anwesenheit von zwei Zeugen in einer Moschee abgelegt, aber
Pflicht ist das nicht.
Bei der letzten Volkszählung 1987 wurden knapp 48.000 Personen
muslimischen Glaubens mit deutscher Staatsangehörigkeit registriert, darunter
auch eingebürgerte Ausländerinnen. Danach ist staatlicherseits die Zahl der
deutschen Muslime nie wieder erhoben worden. Das Islam-Archiv im westfälischen
Soest jedoch versendet alljährlich an die muslimischen Gemeinden in Deutschland
Fragebögen, durch die auch Konversionen erfasst werden. Früher seien es
höchstens 350 pro Jahr gewesen, sagt Mohammad Salim Abdullah, Seniordirektor
des Soester Archivs, doch bei der letzten Erhebung, die noch nicht komplett ausgewertet
worden sei, tendiere die Zahl der Neuzugänge durch Übertritt gegen 4.000
innerhalb von zwölf Monaten.
Den freundlichen alten Herrn am Telefon freut es ungemein,
dass sich so viele Deutsche dem Islam zuwenden: »Ausgerechnet in einer Zeit, wo
er unter dem Generalverdacht des Terrorismus steht!« Aber eine Schätzung, wie
viele Konvertitinnen es mittlerweile insgesamt sind, will Abdullah nicht
wagen, weil das Islam-Archiv keine Abwanderungen und Sterbefälle zählt. In den
allgemeinen Fragebögen wird auch nicht nach den Gründen für eine Konversion
gefragt, erläutert der Seniordirektor, allerdings würden sie stichprobenartig
durch Einzelfragebögen erforscht.
Demnach stellen deutsche Frauen mit einem muslimischen
Ehemann die größte Gruppe unter den Konvertitinnen. Die Christinnen, die nicht
wegen einer Heirat zum Islam übertreten, sondern aus purer Überzeugung, seien
»überwiegend Protestanten«: »Sie haben mit der Dreifaltigkeit Probleme und
wünschen sich einen starken Monotheismus.« Das Islam-Archiv registriert auch
»eine große Zahl von atheistisch erzogenen jungen Frauen aus der ehemaligen
DDR«. Die mystischen Sufi-Orden hätten es ihnen besonders angetan, erzählt
Mohammad Salim Abdullah.
Bei der Bekehrung der Archäologin Susanne Osthoff - seit
ihrer Entführung im Irak die wohl bekannteste deutsche Konvertitin - scheinen
auch Abenteuerlust und Begeisterung für die arabische Kultur eine Rolle
gespielt zu haben. Vielleicht aber nicht nur das. Die Leipziger
Kultursoziologin Monika Wohlrab-Sahr vermutet: Osthoffs Konversion könne auch
»eine Art Emigration aus der Herkunftsfamilie« gewesen sein.
Wohlrab-Sahr erforscht Konversions-Motive durch biografische
Interviews. Dabei hat
Weitere Kostenlose Bücher