Schwarzer, Alice
ist, nahm der
heutige Präsident Sarkozy damals in Kauf. Er will potenzielle muslimische
Wähler auf keinen Fall verprellen. Doch trotz seiner Vermittlungsversuche wird
Sarkozy im Frühjahr 2003 auf einem Kongress französischer Muslime ausgepfiffen,
als er daran erinnert, dass Frauen auf dem Passfoto kein Kopftuch tragen
dürfen.
Das entscheidende Machtwort im Schleierstreit kommt von
Präsident Chirac. Er ist es auch, der nach seiner Wiederwahl 2002 als erster
Präsident eine Maghrebinerin in die Regierungsmannschaft nimmt, die
Staatssekretärin für Umwelt, Tokia Saifi. Deren Lebensgefährte Arno Ferhati
gründete übrigens aus Protest gegen Sarkozys Muslimrat, von dem sich zahlreiche
Muslime nicht vertreten fühlten, den »Rat der laizistischen Muslime
Frankreichs«.
Chirac besteht auf einer strikten Einhaltung des
laizistischen Prinzips, das für Jean Jaures, einen der Gründerväter des französischen
Sozialismus, »die größte Reform in unserem Land seit der Französischen
Revolution« war. »Der Staat für sich, die Kirche für sich«, so resümierte
Victor Hugo den französischen Weg. 1905 verabschiedete das Parlament ein
Gesetz, das die Trennung von Staat und Kirche besiegelte. Die Laizität sollte
jedem die Religionsfreiheit erlauben - im Privaten. Glauben ist in Frankreich Privatsache,
Wissen hingegen ist »für alle«. Jüdische oder Koranschulen funktionieren meist
nur am schulfreien Mittwoch.
Das Kopftuch bleibt 2003 die zentrale Frage, obwohl es in
dem Jahr vor dem Verbot bei zwölf Millionen Schülerinnen nur zu 150 kritischen
Fällen kam. Im Dezember 2003 regt die von Chirac einberufene Kommission ein
Gesetz an, das »sichtbare« religiöse und politische Zeichen in Schulen wie
Amtern und bei jeder Berufsausübung verbietet. Der Kommission gehören 20
Professorinnen an, Philosophinnen, Politikerinnen, Schulrektorinnen und
Bürgermeisterinnen.
Angesichts des drohenden Kopftuchverbots schreibt der
»Muslimische Rat Frankreichs« einen Protestbrief an Präsident Chirac. Der
Rektor der Moschee von Lille spricht sich für das Tragen eines »dezenten
Kopftuchs« aus. Gegen ein Gesetz sind auch die katholische Kirche und der Rat
der Juden, die verhindern wollen, dass Kreuz und Kippa mit dem Schleier in
einen Topf geworfen werden.
Die Mehrheit der Muslima selbst jedoch, nämlich 53
Prozent, sind einer repräsentativen Umfrage von Elle zufolge gegen jedes sichtbare religiöse Zeichen in der
Schule! Elle lanciert
im Namen der Gleichheit der Geschlechter eine Petition gegen das Kopftuch,
viele Prominente unterschreiben, darunter die Schauspielerin Isabelle Adjani,
deren Vater Algerier ist und deren Mutter Deutsche.
»Den Zivilisationsgrad einer Gesellschaft misst man zuerst
am Platz, den die Frauen haben«, erklärt Präsident Jacques Chirac.
Und kündigt im Dezember 2003 ein Gesetz an, das »sichtbare
religiöse Zeichen in Schulen und Behörden« verbietet. Und in staatlichen
Krankenhäusern sollen Muslima nicht mehr verlangen können, von Ärztinnen
behandelt zu werden. Gleichzeitig spricht sich Chirac gegen jede Form von
Diskriminierung von Einwanderern aus und für die Gleichheit zwischen Männern
und Frauen, die im Beruf noch sehr im Argen liege. Die Reaktionen auf seine
Rede sind allgemein positiv, auch unter Musliminnen.
Der damalige Präsident des Muslimischen Rates, der gemäßigte
Dahl Boubakeur, ruft nun die islamischen Führer dazu auf, ihren Gläubigen die
Rede Chiracs zu erklären, damit sie verstehen, dass es in ihrem Sinne sei, das
Gesetz zu befolgen. Die ebenfalls im Muslimischen Rat vertretene radikale Union
der islamischen Organisationen Frankreichs UOIF erklärt: »Wir waren gegen das
Gesetz, aber nun ist es da, und wir müssen damit leben.« Auf der letzten
Protestkundgebung im Jahr 2003 zählt die Polizei nur noch 2.500 Demonstranten.
Das »Verbot deutlich sichtbarer religiöser Zeichen in den
Schulen« wird im Frühjahr 2004 im Parlament mit der überwältigenden Mehrheit
von 494 (von 577) Stimmen verabschiedet. Konservative und Sozialisten stimmen
gemeinsam dafür. Die 36 Gegenstimmen kommen von zwölf Konservativen und zwei
Sozialisten sowie der Mehrheit der Kommunisten und Grünen. Die 32 Enthaltungen
kommen überwiegend von den Liberalen. Im Senat wird das Gesetz mit 276 gegen 20
Stimmen verabschiedet.
Am 1. September 2004 soll das Kopftuch-Verbot in Kraft treten.
Doch ab dem 20. August 2004 sorgt die Geiselnahme zweier französischer
Journalisten in Irak noch einmal für
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