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Schwarzer, Alice

Schwarzer, Alice

Titel: Schwarzer, Alice Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die grosse Verschleierung
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Dramatik.
    Eine »islamische Armee« gibt der französischen Regierung
48 Stunden, um das Gesetz wieder abzuschaffen. Angesichts der Geiselnahme sind
sich jedoch plötzlich alle Franzosen einig, auch die, die zuvor gegen das
Kopftuchverbot waren: Alle Parteien und alle Religionen fordern die
bedingungslose Freilassung der Journalisten. Und auf der Demonstration am 30.
August marschieren auch verschleierte Frauen mit Slogans wie »Ich will meinen
Schleier nicht mit unschuldigem Blut beflecken« oder »Im Namen aller
französischen Muslime: Befreit die Journalisten!«.
    Das Gesetz tritt wie vorgesehen zum Schuljahresbeginn im
September 2004 in Kraft. Die beiden Journalisten kommen vor Weihnachten frei.
Die algerischstämmige Hanifa Cherifi, Mitglied des Integrationsrates und der
Kommission zur Laizität, war bereits 1994 Mediatorin bei Konflikten um das
Kopftuch gewesen. Sie konstatiert in ihrem Bericht im Auftrag des Bildungsministeriums
bereits ein Jahr nach dem Kopftuch-Verbot: »Selbstverständlich ist damit das
Problem mit (...) dem islamischen Kopftuch nicht geregelt. Manche Mädchen haben
das Kopftuch dank des Gesetzes endgültig abgelegt - andere setzen es gleich bei
Verlassen der Schule wieder auf.«
    Gesamt ist Cherifis Bilanz positiv: »Die Mentalitäten
haben sich geändert, die Laizität wird besser verstanden«, schreibt sie. Der
gesetzliche Rahmen, der eine kohärente Handhabung der Kopftuch-Frage im ganzen
Land erlaube, habe den endlosen Debatten zwischen Schulleitung und Lehrern,
Lehrern und Eltern, Schulleitung und Eltern ein Ende gesetzt. Der Bericht
erwähnt schon im ersten Jahr vereinzelte Probleme mit verschleierten Mut tern, die
auf Schulausflüge mitkommen. Im Großen und Ganzen aber sei »die Autorität der
Schule wiederhergestellt«. ■ EMMA 5/2009
     
    ALICE SCHWARZER / DIE WAHREN GRÜNDE DER
VORSTADTUNRUHEN
     
    »Früher haben sie Mülleimer und Autos verbrannt - jetzt
verbrennen sie Mädchen.« Diesen Satz sprach Kahina Benziane, nachdem ihre Schwester
Sohane am 4. Oktober 2002 in der Pariser Banlieue Vitry von Mitschülern
vergewaltigt, gefoltert und bei lebendigem Leibe verbrannt worden war. Sohane
war - im Gegensatz zu ihrer Schwester, die wegzog und Soziologie studiert - im
Quartier geblieben. Sie hatte es aber dennoch gewagt, zu leben wie die
Schwester; das heißt: sich zu schminken, auszugehen, einen Freund zu haben. Das
hat sie das Leben gekostet. Denn damit gehörte sie nicht zu den »anständigen
Mädchen«, sondern zu den »putes«, den Huren.
    »Fils de pute«, Hurensohn, lautet heute die Schmähung der
Polizeibeamten durch die Steine und Brandsätze werfenden Jugendlichen bzw.
Jungen, Mädchen kommen in dieser »Jugendrevolte« nicht vor. Auch 1968 flogen
in Paris die Pflastersteine, aber auf den Barrikaden standen Männer und Frauen.
Auch wenn die Anführer männlich waren. Ziel der Revolte waren die autoritären
Strukturen, aber nicht der Staat an sich; in Flammen standen Luxus-Läden, keine
Schulen. Und der Schlachtruf gegen die »Bullen« lautete: »CRS SS!« Ein
schiefer, doch immerhin ein politischer Vergleich. Die heutige Parallele aber
ist eine rein sexistische: Hurensohn.
    Fakt ist: Von den etwa sechs Millionen Zuwanderern der
ersten, zweiten und schon dritten Generation in Frankreich kommt die Mehrheit
aus dem muslimischen Maghreb, also aus den französischen Exkolonien Algerien
und Marokko. Eine Vergangenheit, die die Gegenwart nicht einfacher macht.
Auffallend ist: Die beurs, die Enkel, sind - ganz wie in Deutschland - zum Teil
schlechter integriert als ihre Großeltern. Und 40 Prozent der Jugendlichen
zwischen 16 und 25 sind arbeitslos, genauer: jeder vierte junge Mann und jede
zweite junge Frau. Unter dem sozialen Aspekt gesehen hätten also die Frauen
doppelten Grund zum Protest.
    Doch die muslimischen Frauen schreien nicht auf der Straße,
sie flüstern hinter den Gardinen. Und wenn sie es denn doch mal öffentlich
wagen, dann richtet sich ihr Protest nicht gegen den Staat, sondern gegen die
eigenen Männer und Brüder. Wie nach dem Tod von Sohane. Damals gründete sich
die Bewegung »Ni putes ni soumises« (Weder Huren noch Unterworfene) und löste
mit ihren Demonstrationen ziemliches Aufsehen in Frankreich aus. Am 8. März
2003 zogen Hunderte von jungen Frauen aus den Vorstädten durch Paris und
erklärten: »Wir ersticken an dem Machismo der Männer in unseren Vierteln. Im
Namen der >Tradition< verweigern sie uns die elementarsten
Menschenrechte. Wir nehmen

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