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Schwarzer, Alice

Schwarzer, Alice

Titel: Schwarzer, Alice Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die grosse Verschleierung
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alles
machen kann, ein »Kellermädchen«. Dreimal wird sie zum Opfer von
Gruppenvergewaltigungen. Die Gebrandmarkte verlässt die Schule, streunt auf
der Straße, versinkt in Drogen und Gewalt. Es dauert noch mal 15 Jahre, bis
Samira endlich redet - und damit einen Skandal entfacht.
    Das Geständnis von Samira und der Tod von Sohane waren der
eine Tropfen zu viel. Ca suffit! Es reicht!, erklärten nun Hunderte, ja
Tausende von Mädchen und Frauen in den Vorstädten und machten sich auf den Weg.
Im Februar und März zog ihr »Marsch der Frauen« durch ganz Frankreich. Unter
dem Slogan »Ni putes ni soumises« (Weder Huren noch Unterworfene)
veranstalteten sie Kundgebungen in 23 Städten. Höhepunkt war die Abschlussdemonstration
am 8. März in Paris mit über 20.000 Teilnehmerinnen.
    »Wir ersticken an dem Machismo der Männer in unseren
Vierteln«, erklärten die Musliminnen in ihrem landesweiten Aufruf. Denn: »Sie
verweigern uns im Namen der >Tradition< die elementarsten Menschenrechte.
Wir nehmen nicht länger hin, dass unsere Unterdrückung mit dem >Recht auf
den Unterschied< gerechtfertigt wird.«
    Nach Jahrzehnten des Stillhaltens brechen die Frauen jetzt
also das unausgesprochene Tabu der Solidarität um jeden Preis mit ihren
Männern. Diese Männer, unter denen die Arbeitslosigkeit und Verunsicherung
grassiert, werden seit Beginn der 80er-Jahre offensiv von islamischen
Fundamentalisten unterwandert. Die bieten ihnen Gruppenzugehörigkeit, Geld (zum
Beispiel, wenn sie ihre Töchter und Frauen verschleiern) und Selbstbewusstsein
- auf Kosten der Frauen. Bereits 1998 hatte die französische Polizei in den
Vorstädten fast tausend, genau: 994 junge Männer verhaftet und wegen
Bandenvergewaltigungen angeklagt. Doch die meisten Zeuginnen hatten angstvoll
geschwiegen. Das ist jetzt vorbei. Zumindest in Frankreich.
    Es ist nicht neu, dass der Rassismus in Frankreich
offensiv bekämpft wird, von Betroffenen wie Sympathisanten. »Ne touche pas á
mon pote!« (Rühr meinen Kumpel nicht an!), lautete das Motto einer
antirassistischen Kampagne, die in den 80er-Jahren Aufsehen erregte und aus der
die sogenannten »Kumpelhäuser« sowie die Organisation »SOS Racisme« entstanden.
Nur: Nach den Kumpelinnen hat niemand gefragt. Und auch niemand nach dem Preis,
den die Frauen für die zunehmende Gettoisierung der Muslime zahlen. Eine
Gettoisierung, die in Frankreich viel leichter zu bekämpfen wäre als in
Deutschland. Denn immerhin sprechen die algerischen oder marokkanischen
Migrantinnen die Landessprache, kommen sie doch aus den ehemaligen französischen
Kolonien.
    Erstmals erheben jetzt die Frauen der Gettos die Stimme.
Ihr Marsch hat jetzt auch die französische Öffentlichkeit aufgeschreckt. Die
bedeutendste französische Tageszeitung, Le Monde, berichtete
ausführlich über den Protest und ließ die jungen Aktivistinnen selbst zu Wort
kommen. »Sexuelle Gewalt in den Vorstädten« überschrieb die Le Monde diplomatique ihr Dossier zu den
Gruppenvergewaltigungen. »Die Mädchen aus den Vorstädten trauen sich zu reden«
titelte die linke Liberation bisher
eher auf der Seite der Kumpel.
    Unter dem Dach der Kumpelhäuser ist eine Website eingerichtet
worden (www.macite.net), auf der die Frauen persönliche Erfahrungen festhalten.
Dadurch machen sie öffentlich, wie sie leben, was sie denken - und was sie
träumen. Nicht selten schreiben sie anonym, denn es bleibt gefährlich, in ihrem
Viertel nicht den Mund zu halten und nicht den Kopf zu senken. Zum Beispiel so:
»Wir können das Jugendzentrum in unserem Viertel nicht besuchen, unsere Brüder
hindern uns daran und die Freunde unserer Brüder hindern uns daran. Wenn wir
im Stadtzentrum einfach spazieren gehen wollen, haben wir Angst, dass dieser
Spaziergang falsch interpretiert wird (>Sie hat sich mit einem Jungen
getroffen!<, >Ich habe gesehen, wie sie in einem Café eine Zigarette
geraucht hat.<). In dem Treffpunkt, den ich besuche, sprechen wir mit einer
Beraterin über Sexualität, aber das passiert heimlich. Wir sprechen mit niemandem
darüber, wir haben Angst, als Nutten beschimpft zu werden. Ich bin es leid, so
zu leben.«
    Es hat schon Zeiten gegeben, in den 70er-Jahren, in denen
die Mehrheit der muslimischen Mädchen in Frankreich fast genauso frei zur
Schule und auf die Straße gingen wie ihre Brüder. Dass die Uhr wieder
zurückgedreht wurde, ist keineswegs nur der sozialen Benachteiligung der
Migrantinnen in Frankreich zu verdanken, sondern auch und vor allem

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