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Schwarzer, Alice

Schwarzer, Alice

Titel: Schwarzer, Alice Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die grosse Verschleierung
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stolzen Gesichter
blicken über die Seine bis hin zum Place de la Concorde. Auf dem Kopf tragen
diese muslimischen Französinnen kein Kopftuch, sondern die Jakobinermütze:
heute das Symbol der Französischen Revolution und einst Kopfbedeckung
freigelassener Sklaven in Rom.
    Der Parlamentspräsident persönlich, Jean-Louis Debre, ließ
es sich nicht nehmen, am 14. Juli, dem Nationalfeiertag, die von der Bewegung
»Ni putes ni soumises« (weder Huren noch Unterworfene) angezettelte
Ausstellung zu eröffnen, die 14 moderne Mariannen zeigt: Frauen, die bereit
sind, für die Freiheit auf die Barrikaden zu gehen. Acht von den 14 sind
Musliminnen, zwei von ihnen inzwischen im ganzen Land bekannt: Samira Bellil,
29, die nach 15 Jahren ihr Schweigen brach und über die systematischen
Erniedrigungen und Gruppenvergewaltigungen muslimischer Mädchen durch ihre
eigenen Freunde und Brüder in den Getto-Vorstädten schrieb (»Durch die Hölle
der Gewalt«, Pendo Verlag); und Kahina Benziane, deren jüngere Schwester am 4.
Oktober vergangenen Jahres von Mitschülern bei lebendigem Leibe verbrannt
wurde. Beide sind inzwischen zu Symbolen des Aufstandes junger Musliminnen in den
französischen Einwanderer-Gettos geworden. Sie gingen in der ersten Reihe, als
am 8. März 30.000 überwiegend junge und überwiegend muslimische Frauen (und ein
paar Männer) in Paris auf die Straße gingen. »Wir sind weder Huren noch
Unterworfene« war auf ihren rosa Transparenten zu lesen. Beim anschließenden
Empfang in Matignon gab der Premierminister den Frauen mehrere Versprechen:
erstens: ein »Leitfaden zur Erziehung zum Respekt«, geschrieben von den Frauen
und veröffentlicht vom Bildungsministerium. Zweitens: Spezielle Anlaufstellen
für die Mädchen aus den Vorstädten in den Polizeikommissariaten oder in den
Vierteln selbst. Drittens: mehr Räume für junge Frauen auf der Flucht.
    Drei Faktoren mussten zusammenkommen, damit die bisher
schweigend hingenommene, zunehmend brutale Unterdrückung der muslimischen
Mädchen und Frauen in den Vorstädten zum öffentlichen Skandal wurde: Erstens
die Tatsache, dass zwei Frauen es gewagt haben, das Schweigen zu brechen: die
geschändete Samira Bellil und die schockierte Schwester der ermordeten
Sohane, und dass Tausende Frauen ihnen folgten. Zweitens die Umkehr der
antirassistischen Organisation »La Federation Nationale des Maisons des Potes«,
die sich bisher fast ausschließlich um die Männer gekümmert und die Frauen
vergessen hatte, aber vor dem Massenprotest der Frauen nicht länger die Augen
verschließen konnte. Drittens die Wende in der französischen
Integrationspolitik. Die Sozialisten hatten sich gar zu lange darin gefallen,
mit den islamischen Fundamentalisten zu sympathisieren. Der konservative
Innenminister Nicolas Sarkozy aber, selbst ungarisch-jüdischer Herkunft, setzt
jetzt auf Integration statt Multikulti. Und genau das wollen Samira, Kahina und
all die anderen: Sie verstehen sich als Französinnen und Republikanerinnen:
»In einem Moment, in dem sich in Frankreich die Debatte über die Trennung von
Staat und Religion zuspitzt, haben wir uns bewusst entschlossen, die
Jakobinermütze zu tragen.«
    ■ EMMA
5/2003
     
    ANTONIA RADOS / AFGHANISTAN IM JAHRE
2010
     
    Obwohl jeder in Deutschland glaubt, in Afghanistan würden
rund um die Uhr Bomben hochgehen, ist es nicht so. Nicht immer so, müsste ich
genauer schreiben. An diesem Morgen empfängt mich ein friedliches Kabul. Es
ist erst sieben Uhr, als wir landen, ich rasch durch die Kontrollen komme, weil
Frauen in eigenen Reihen abgefertigt werden und außer mir nur zwei Mitarbeiterinnen
einer Hilfsorganisation mit auf der Maschine waren.
    Mein Kopftuch lasse ich in der Handtasche. Ich bin kein
Freund von Kopfbedeckungen, füge mich aber, wenn es nicht anders geht. Sobald
ich eine Brise Freiheit spüre, lege ich jedes Tuch instinktiv ab bzw. setze es
erst gar nicht auf.
    Auf dem Wege in die Stadt sehe ich an einer Kreuzung die
erste einheimische Frau am Gehsteig hocken, eine Bettlerin unter einer Burka,
die sichtbare Hand flehend ausgestreckt. Kein Zweifel, ich bin zurück in
Afghanistan. Eine andere Burka-Trägerin geht mit Sohn einkaufen. Eine Gruppe
Schulmädchen marschiert in den typischen Uniformen, dunkelblauer Mantel und
weißes Kopftuch, in zwei Reihen hintereinander. Es wundert mich, so wenig
Mädchen und Frauen zu sehen. Das muss wohl mit der frühen Stunde
zusammenhängen, rede ich mir ein.
    Ganz bewusst suche ich in

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