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Schwarzer, Alice

Schwarzer, Alice

Titel: Schwarzer, Alice Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die grosse Verschleierung
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Krisengebieten immer nach Frauengestalten.
Ich weiß nicht, ob es die beste Überlebensregel ist, aber solange ich Frauen in
Straßen gehen oder auf den Feldern arbeiten sehe, fühle ich mich sicherer. Die
Logik dahinter ist einfach: In den schlimmsten Gefahren-Zonen erledigen selbst
die einfachsten Gänge männliche Familienmitglieder. Frauen gehen nicht aus dem
Haus. Zweite wichtige Überlebens-Regel: Sieht man Frauen laufen oder am
helllichten Tag plötzlich die Acker verlassen, sollte man sich in Acht nehmen.
Die Frauen suchen Schutz. Ein Taliban-Angriff steht bevor.
    Im Hotel sind die Gesichter des Personals angespannter als
sonst. Eine blonde Frau, um die vierzig, geht durch die Lobby, mit
verschwollenen, verweinten Augen. Zufällig sitzt sie eine halbe Stunde später
im Frühstücksraum am Nebentisch und beginnt, als sich unsere Blicke kurz
kreuzen, hektisch zu erzählen, sie sei am Vortag knapp einem Anschlag
entgangen. Ihr Auto sei auf einen IED (improvised explosive device: Sprengfalle)
aufgefahren. Innerhalb von Sekunden war der Wagen voller Rauch und Splitter,
hielt jedoch dem Druck stand, weil er gepanzert war. Am meisten hatte die Frau,
die für eine Hilfsorganisation in Afghanistan ist, schockiert, dass der
Anschlag im Paschir-Tal stattfand, ungefähr 40 Kilometer im Nordosten von
Kabul, in der sichersten Zone des Landes, trügerisch sichersten Zone muss man
wohl sagen.
    Während ich zuhöre, fällt mir der Spruch des rumänischen
Philosophen Elias Canetti ein: »Der Augenblick des Überlebens ist der
Augenblick der Macht.« Dabei macht diese Frau, eine Holländerin, keineswegs den
Eindruck einer stolzen Überlebenden. Sie ist in ihren Grundfesten erschüttert.
Eine, die kam, um zu helfen, sollte getötet werden! Zum Abschied rate ich ihr,
sie solle Afghanistan mit der nächsten Maschine verlassen und sich nicht weiter
abquälen in einer Stadt, in der jeder Tag der letzte sein kann. Worauf sie
antwortet, sie wolle alles, nur nicht zurück zu ihrer Familie. Der habe sie
nichts davon erzählt und würde von ihr nur Vorwürfe zu hören kriegen: Wir haben
es dir doch gesagt! Afghanistan ist die Hölle! Aber du wolltest ja nicht hören
...
    Die Frau ist ein Schock für mich, obwohl ich doch alles
wissen müsste. Vergangenes Jahr bin ich die Treppe zum Bunker des »Serena«
regelrecht hinuntergestürmt, weil man nach einem Mörserangriff auf das Hotel
fürchtete, Killer würden eindringen. Im Hotel Sah kann ich nicht mehr wohnen.
Im Park-Gästehaus genauso wenig. Nach Anschlägen werden beide gerade
restauriert.
    Es klingt absurd, doch am sichersten fühle ich mich noch
im Wirrwarr des Basars entlang des Kabul-Flusses. Irgendwie anonym, wenn ich
mein Kopftuch umhabe und meinen Übersetzer Yassin alles erledigen lasse. So
spaziere ich beinahe unerkannt zwischen Ständen mit gebrauchten Jeans und
solchen, die Stoßstangen aus aller Welt verkaufen. Obwohl Yassin meint, wir
sollten nicht zu lange bleiben, denn bei den Bazaris könne die Stimmung von
einer Minute zur anderen umschlagen. Es müsse sich nur einer aufspielen und
»haradschi« schreien, Ausländer!
    Eines Morgens suchen wir stundenlang nach dem »Amt für
gefallene Polizisten«, bis wir es endlich im ersten Stock eines abbruchreifen
Hauses finden oder etwas, was aussieht wie ein Amt. Im Vorraum sorgen mehrere
Helfer dafür, dass ihr Chef ständig ein frisches Glas grünen Tee vor sich stehen
hat. Als Yassin erzählt, wir würden recherchieren, ob umgekommene Polizisten
entschädigt werden, scharren sich plötzlich Gestalten um uns.
    Ein Methusalem mit blitzblauen Augen. Dessen Sohn, erkennbar
an derselben strahlenden Augenfarbe, klagt: »Mein Bruder war Polizist. Vor zwei
Jahren wurde er bei einem Hinterhalt der Taliban ermordet.« Seither warte man
auf eine Entschädigung, das heißt auf umgerechnet 1000 bis 1200 Euro. Das ist
viel Geld in Afghanistan.
    Anschließend fahren wir ins Ministerium für »Märtyrer und
Kriegsverletzte«. Es ist beinahe Mittag und die Sicherheitskräfte, die um jedes
Ministerium, jede Botschaft und jedes Nato-Camp, zusätzlich geschützt von
meterhohen Betonmauern, Dienst schieben, wollen uns nicht mehr einlassen.
Schließlich lassen sie sich erweichen, doch nur, um uns einer strengen
Kontrolle zu unterziehen. Hinter einem Vorhang werde ich von einer Frau betastet,
wie es genauer nicht mehr geht, bevor der Inhalt meiner Tasche an der Reihe
ist. »Amriki?«, fragt die Frau. Ich versuche ihr radebrecherisch

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