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Schwarzer Mittwoch

Schwarzer Mittwoch

Titel: Schwarzer Mittwoch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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gewesen. Ihre Mutter hatte ihm einen Platz angeboten, ihm Tee und Kuchen gebracht und dann eine Handvoll Fotos aus einer Schublade hervorgeholt. Valerie Boyle nahm ihm gegenüber auf einem Sessel Platz und sprach darüber, wie schwierig ihre Tochter immer gewesen sei.
    »Ist sie jemals von zu Hause weggelaufen?«, wollte Fearby wissen.
    »Sie ist an die falschen Freunde geraten«, antwortete Valerie. »Manchmal blieb sie die ganze Nacht weg, manchmal sogar mehrere Tage. Wenn ich mich dann aufregte, flippte sie völlig aus. Ich konnte nichts tun.«
    Fearby klappte sein Notizbuch zu. Eigentlich hätte er jetzt gehen können, musste aber wenigstens so lange bleiben, dass es nicht unhöflich wirkte. Nachdenklich betrachtete er Valerie Boyle. Er hatte das Gefühl, die Mütter inzwischen in zwei Gruppen einteilen zu können. Manche litten unter ihrem Kummer wie unter einer chronischen Krankheit. Sie wurden davon ganz grau, feine Furchen gruben sich in ihr Gesicht, und in ihre Augen trat ein leerer Ausdruck, als existierte nichts mehr, was sich anzuschauen lohnte. Aber es gab auch Frauen wie die, die gerade vor ihm saß. Valerie Boyle hatte etwas Schreckhaftes an sich, eine Art wachsame Bereitschaft, vor einem Schlag zurückzuweichen, der jeden Moment kommen konnte – als befände sie sich in einer heiklen Situation, bei der jederzeit damit zu rechnen war, dass sie eine hässliche Wendung nahm.
    »Gab es zu Hause Probleme?«, fragte Fearby.
    »Nein, nein«, erwiderte sie schnell, »höchstens manchmal mit ihrem Dad, der konnte hin und wieder ein bisschen grob werden, aber wie ich schon gesagt habe, sie war schwierig. Dann ist sie einfach verschwunden. Die Polizei hat deswegen nie viel unternommen.«
    Fearby fragte sich, ob es nur zu Gewalttätigkeiten gekommen war oder auch zu Sex. Und die Frau vor ihm – hatte sie lediglich danebengestanden und zugesehen, wie es passierte? Am Ende blieb dem Mädchen wohl keine andere Wahl, als zu fliehen. Vermutlich hielt sie sich irgendwo in London auf, eine unter Tausenden von jungen Leuten, die einfach von zu Hause flüchteten, auf welche Art auch immer. Vielleicht war sie mit einem der »falschen Freunde« zusammen, von denen ihre Mutter gesprochen hatte. Fearby wünschte ihr insgeheim Glück.
    Als Fearby dann aber auf das kleine Wohngebiet gleich außerhalb von Stafford zufuhr, wusste er instinktiv, dass er dort auf etwas stoßen würde. Obwohl die Siedlung nur ein paar Fahrminuten vom Ort entfernt war, lag sie bereits in einer halb ländlichen Gegend, umgeben von unbebauten, mit Buschwerk bewachsenen Flächen, Fußballplätzen und Waldstücken. Er sah Schilder, die auf Fußwege hinwiesen. Das alles passte schon eher ins Bild. Daisy Logans Mutter wollte ihn erst gar nicht ins Haus lassen. Sie sprach durch einen Türspalt mit ihm, ohne die Kette zu lösen. Fearby erklärte ihr, er sei Journalist und wolle herausfinden, was mit ihrer Tochter passiert sei. Er werde sie nicht lange aufhalten, fügte er hinzu, doch sie blieb stur. Sie beharrte darauf, nicht darüber reden zu wollen. Es sei nun schon sieben Jahre her, die Polizei habe aufgegeben, den Fall längst ad acta gelegt.
    »Nur ein paar Minuten«, drängte Fearby. »Eine Minute.«
    »Was wollen Sie?«
    Fearby erhaschte einen Blick auf dunkle, kummervolle Augen. Obwohl er inzwischen daran gewöhnt war, hatte er doch manchmal das ungute Gefühl, dass er die Leute in die Enge trieb und alte Wunden aufriss. Aber was blieb ihm anderes übrig?
    »Ich habe das von Ihrer Tochter gelesen«, erklärte er. »Ein tragischer Fall. Mich würde interessieren, ob es irgendwelche Vorzeichen gab. War sie unglücklich? Hatte sie Probleme in der Schule?«
    »Daisy ging sehr gern zur Schule«, antwortete die Frau. »Sie war gerade erst in die Abschlussklasse gekommen. Sie wollte Tierärztin werden.«
    »Wie war ihre Stimmung?«
    »Möchten Sie von mir wissen, ob Daisy von zu Hause weggelaufen ist? Die Woche nachdem sie … sie wäre auf Klassenfahrt gegangen. Sie hatte sechs Monate lang nebenbei gearbeitet, um sich das Geld dafür zusammenzusparen. Wissen Sie, mein Mann ist auch zu Hause. Er ist arbeitsunfähig. Das Ganze hat ihm das Genick gebrochen. Bis heute machen wir uns die größten Vorwürfe. Wir lassen den betreffenden Abend immer wieder Revue passieren. Sie wollte damals nur auf einen Sprung zu ihrer besten Freundin rüberschau’n und hat wie üblich eine Abkürzung über den Anger genommen. Wenn wir sie doch nur gefahren hätten! Wir

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