Schwarzer Mittwoch
hatte, sind wir noch eine Weile in Kontakt geblieben, allerdings nicht lange. Unser Leben verlief ab da so unterschiedlich. Mein Weg führte in die eine Richtung, und der ihre … nun ja, sie war eigentlich auf gar keinem Weg mehr.«
»Haben Sie eine Ahnung, was aus ihr geworden ist?«
»Nein, keinen blassen Schimmer.«
»Wo sind Sie zur Schule gegangen?«
»Unten bei Croydon, in die John-Hardy-Schule.«
»Sind Sie beide in Croydon aufgewachsen?«
»Kennen Sie die Gegend?«
»Nein, überhaupt nicht.«
»Wir wohnten ganz in der Nähe von Croydon, praktisch im Nachbarort.«
»Können Sie sich an ihre Adresse erinnern?«
»Das ist schon seltsam. Ich weiß zwar nicht mehr, was letzte Woche war, aber an alles, was mit meiner Kindheit und Jugend zu tun hat, kann ich mich noch ganz genau erinnern. Ledbury Close, Hausnummer acht. Haben Sie vor, nach ihr zu suchen?«
»Ich glaube schon.«
Agnes nickte langsam. »Das hätte ich selbst schon längst tun sollen«, sagte sie. »Ich frage mich oft, wie es ihr wohl geht.«
»Sie befürchten, es könnte ihr nicht gut gehen?«
»Als ich sie das letzte Mal gesehen habe, befand sie sich in recht schlechter Verfassung.« Frieda wartete, bis Agnes weitersprach. »Sie war von zu Hause weg und hatte ein Drogenproblem.« Agnes schauderte. »Sie sah ziemlich schlecht aus, mager und pickelig. Ich weiß nicht, woher sie das Geld für das Zeug hatte. Einer geregelten Arbeit ging sie damals nämlich nicht nach. Ich hätte mehr für sie tun sollen, oder?«
»Keine Ahnung.«
»Sie steckte in Schwierigkeiten, das lag auf der Hand, und trotzdem wäre ich am liebsten so weit wie möglich weggelaufen – als wäre das Ganze ansteckend. Ich habe versucht, den Gedanken an sie zu verdrängen. Eine tolle Freundin.«
»Immerhin haben Sie sich an diese Geschichte erinnert und sie weitergegeben.«
»Ja. Ich sehe sie jetzt wieder richtig vor mir – das schiefe Grinsen, mit dem sie mir das damals erzählte.«
»Wie hat sie denn ausgesehen, als Sie beide zusammen zur Schule gingen?«
»Klein und dünn. Sie hatte langes, dunkles Haar, das ihr immer in die Augen fiel, und ein unglaubliches Lächeln. Es hat sich über ihr ganzes Gesicht ausgebreitet. Irgendwie sah sie umwerfend aus, wenn auch auf eine sehr besondere Art. Sie hatte etwas von einem Äffchen, aber auch von einem Straßenkind und trug immer sehr ausgefallene Klamotten, die sie in irgendwelchen Secondhandläden fand. Die Jungs waren alle hin und weg von ihr.«
»Hat sie Familie?«
»Ihre Mum ist schon früh gestorben, als Lila noch ein kleines Mädchen war. Vielleicht wäre ihr Leben anders gelaufen, wenn sie eine Mutter gehabt hätte. Ihr Vater war wunderbar. Er hieß Lawrence und liebte sie abgöttisch, konnte sie aber nicht bremsen – nicht einmal, als sie noch klein war. Außerdem hat sie noch zwei Brüder, Tony und Will, die etliche Jahre älter sind als sie.«
»Danke, Agnes. Wenn ich sie finde, lasse ich es Sie wissen.«
»Ich frage mich wirklich, was aus ihr geworden ist. Womöglich ist sie ja sesshaft geworden und mittlerweile eine brave Bürgerin, mit Kindern, Ehemann und Job. Auch wenn ich mir das bei ihr irgendwie nicht vorstellen kann. Was ich dann wohl zu ihr sagen würde?«
»Da würde Ihr Herz Ihnen schon was einflüstern.«
»Ja, dass ich sie im Stich gelassen habe. Aber seltsam ist es schon, wie das plötzlich alles wieder hochkommt – nur wegen so einer albernen Geschichte, die ich dem armen Rajit erzählt habe.«
Frieda – du hast weder auf meine letzten Anrufe noch auf meine Mails reagiert. Bitte lass mich wissen, dass alles in Ordnung ist. Sandy xxx
33
F rieda wanderte langsam nach Hause. Sie spürte, wie die Wärme in ihren Körper sickerte, und hörte das leise Tappen ihrer Schritte auf dem Gehsteig. Die Gesichter der Leute, die sich auf sie zu und dann an ihr vorbei bewegten, nahm sie nur verschwommen wahr. Sie sah sich selbst wie von außen. Die Gedanken, die ihr in den Sinn kamen, schienen zu einer anderen Person zu gehören. Frieda wusste, dass sie nach all den unruhigen Nächten und wirren Träumen einfach müde war.
Sie ging nicht schnurstracks heim, sondern bog ab, um sich eine Weile in Lincoln’s Inn Fields niederzulassen, einer kleinen Grünanlage mit blühenden Obstbäumen und Beeten voller Tulpen, die gerade erst dabei waren, ihre Blütenkelche zu öffnen. Um die Mittagszeit saßen dort oft scharenweise Anwälte in schicken Anzügen und ließen sich ihr mitgebrachtes Essen schmecken.
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