Schwarzer Mittwoch
gefragt, ob er jetzt schon andere Frauen als Botinnen losschickt, sozusagen als Brieftauben. Sind Sie eine Freundin von ihm?«
»Nein, ich bin ihm nur zweimal kurz begegnet.«
»Was sind Sie dann?«
»Psychotherapeutin.«
»Hat er sich als Patient an Sie gewandt?«
»Nicht direkt.«
Einen Moment lang schwiegen sie. Dann breitete sich plötzlich ein Lächeln auf Agnes’ Gesicht aus. Ihr war gerade ein Licht aufgegangen.
»Jetzt weiß ich, wer Sie sind! Sie sind diejenige welche, nicht wahr?
»Kommt darauf an, was Sie mit ›diejenige welche‹ meinen.«
»Warum sind Sie hier? Gehört das zu irgendeinem komplizierten Rachefeldzug?«
»Nein.«
»Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich urteile nicht über Sie. Wenn jemand mich auf diese Weise zum Narren gehalten hätte, würde ich die Betreffenden kreuzigen.«
»Aber deswegen bin ich nicht hier.«
»Nein? Warum dann?«
»Es geht um etwas, das Rajit gesagt hat.« Frieda sah sich selbst plötzlich von außen: wie sie eine Person nach der anderen abklapperte und jedes Mal eine bruchstückhafte Geschichte vortrug, die zunehmend aus ihrem ursprünglichen Kontext losgelöst schien – eine Szene, die ihr einfach nicht aus dem Kopf ging. Sie sollte endlich damit aufhören, ermahnte sie sich selbst, und stattdessen in ihr altes Leben zurückkehren. Plötzlich aber spürte sie den Blick von Agnes Flint, die auf ihre Antwort wartete.
»Rajit war nicht der auf mich angesetzte Student«, erklärte sie, »das war ein anderer. Aber die vier erzählten alle die gleiche Geschichte – eine, die den Eindruck erwecken sollte, als ginge von ihnen eine klare Bedrohung aus.«
»Ja, ich habe darüber gelesen.«
»In dieser Geschichte kam ein faszinierendes Detail vor, das laut Rajit ursprünglich von Ihnen stammte.«
»Von mir? Das verstehe ich jetzt nicht.«
»Es ging darum, dass er seinem Vater die Haare geschnitten hatte – beziehungsweise, dass Sie Ihrem Vater die Haare geschnitten hatten, falls die Geschichte tatsächlich von Ihnen kam und er sie nur für seine Zwecke abgewandelt hat.«
»Wie bitte?«
»Laut Rajit haben Sie dabei ein Gefühl von Macht und Zärtlichkeit empfunden.«
»Damit kann ich jetzt überhaupt nichts anfangen.«
»Er hat gesagt, Sie hätten ihm die Geschichte im Bett erzählt, während Sie ihm übers Haar streichelten und dann meinten, es gehöre geschnitten.«
»Ach ja, stimmt, jetzt weiß ich es wieder. Und weiter?«
»Und weiter?« Darauf wusste Frieda keine Antwort. Resigniert sagte sie: »Dann war das also nur irgendeine Erinnerung, die Ihnen in den Sinn kam? Ohne jede tiefere Bedeutung?«
»Es war keine Erinnerung von mir.«
»Wie meinen Sie das?«
»Eine Freundin hat es mal erzählt. Diese Haarschneidegeschichte stammt nicht von mir, sondern von ihr. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob es dabei wirklich um ihren Vater ging. Vielleicht war auch von ihrem Freund oder Bruder die Rede oder einfach von irgendeinem Bekannten. Das habe ich vergessen. Ich weiß nicht mal mehr, warum ich mich überhaupt daran erinnere – es war nur eine kleine Episode, und das Ganze ist schon Jahre her. Trotzdem ist es mir irgendwie im Gedächtnis hängen geblieben. Was für eine seltsame Vorstellung, dass Rajit das in seine Lügengeschichte geschrieben hat und es auf diese Weise bei Ihnen gelandet ist.«
»Stimmt«, antwortete Frieda nachdenklich. »Demnach hat es Ihre Freundin also Ihnen erzählt, und Sie haben es Rajit weitererzählt.«
»Zumindest eine Version davon.«
»Verstehe.«
Agnes musterte Frieda prüfend. »Warum um alles in der Welt interessiert Sie das?«
»Wie heißt Ihre Freundin?«
»Das sage ich Ihnen erst, wenn Sie meine Frage beantwortet haben: Warum ist das für Sie wichtig?«
»Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich ist es überhaupt nicht wichtig.« Frieda sah in die klugen, blitzenden Augen der jungen Frau. Agnes war ihr sehr sympathisch. »Die Wahrheit ist, dass es mir einfach keine Ruhe lässt. Ich weiß selbst nicht, warum, aber ich habe das Gefühl, dass ich dem Faden folgen muss.«
»Dem Faden?«
»Ja.
»Lila Dawes. Eigentlich heißt sie Lily, aber so hat sie nie jemand genannt.«
»Danke. Wie lange sind Sie schon befreundet?«
»Wir sind nicht mehr befreundet – wir waren es. Lila und ich sind zusammen zur Schule gegangen. Damals waren wir beste Freundinnen.« Sie lächelte wieder auf diese leicht ironische Weise. »Sie war ein bisschen wild, aber niemals böse. Nachdem sie mit sechzehn die Schule geschmissen
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