Schwarzer Mittwoch
wohnte in der Gegend von Waterloo, nur ein paar Straßen südlich des Bahnhofs, wo sich gerade der Mittagsverkehr staute: Taxis, normale Autos, Lieferwagen und Busse. Radfahrer schlängelten sich zwischen den Fahrzeugen hindurch. Die meisten zogen den Kopf ein, weil mittlerweile ein ziemlich starker Wind ging. Ein Krankenwagen brauste mit Sirenengeheul vorbei.
Die Nummer zweihundertzweiunddreißig war ein kleines, ein Stück von der Straße zurückgesetztes Reihenhaus. Ein paar Stufen führten zu einer grün gestrichenen, von Rissen durchzogenen Holztür hinauf. Yvette drückte auf den Klingelknopf und klopfte zusätzlich energisch, weil sie sowieso davon ausging, dass er nicht zu Hause war. Umso überraschter war sie, als sie Schritte hörte und wenige Augenblicke später das Klirren einer Kette. Vor ihr stand eine Frau, ein Baby in einem gestreiften Strampelanzug auf dem Arm.
»Ja?«
»Ich wollte zu Zach Greene«, erklärte Yvette. »Bin ich da richtig?«
»Ja, er ist unser Mieter. Sie müssen durch den Garten.« Obwohl sie Hausschuhe trug, kam sie heraus und ging mit Yvette die Treppe hinunter, um ihr die Richtung zu zeigen. »Der kleine Weg dort führt hinters Haus, zu einem kleinen Gartentor, das nicht richtig schließt. Wenn Sie da durchgehen, sehen Sie auf der einen Seite schon seine Wohnung.«
»Danke.« Yvette lächelte dem Baby zu, das erschrocken die Augen aufriss und zu schreien anfing. Sie hatte noch nie einen guten Draht zu Babys gehabt.
»Richten Sie ihm von mir aus, dass er nicht so laut sein soll, ja? Gestern Abend hat er einen Höllenlärm veranstaltet – kurz nachdem mein Kleiner hier endlich eingeschlafen war.«
Yvette trat durch das klapprige Gartentor. Ein paar Holzstufen führten von dem Haus, vor dem sie gerade gestanden hatte, in den kleinen Garten hinunter, wo ein Kinderdreirad aus Kunststoff umgekippt auf der Seite lag. Unterhalb der Stufen befand sich die Wohnungstür. Yvette läutete. Nachdem sie kurz gewartet hatte, klopfte sie. Ächzend ging die Tür einen Spalt weit auf.
Yvette blieb einen Moment wie angewurzelt stehen und lauschte aufmerksam. Von der Straße drang Verkehrslärm, aber im Innern des Hauses war nichts zu hören.
»Hallo!«, rief sie. »Zach? Mister Greene? Hier ist Detective Long.«
Nichts. Der Wind ließ weiße Blütenblätter auf sie herunterrieseln. Einen Augenblick dachte sie, es wäre Schnee. Schnee im April, ging ihr durch den Kopf, das war gar nichts so Ungewöhnliches. Vorsichtig schob sie die Tür weiter auf und trat auf eine abgewetzte Fußmatte. Zach Greene war kein ordentlicher Mensch. Auf dem Boden lagen Schuhe, stapelweise Werbung, ein paar leere Pizzaschachteln, ineinander verschlungene Handyladegeräte und Computerkabel, ein Baumwollschal mit Fransen.
Zögernd ging sie ein paar Schritte weiter.
»Zach? Sind Sie da?« In der kleinen Wohnung klang ihre Stimme sehr laut. Rechts von ihr befand sich eine winzige Küche: ein Kochfeld, verkrustet mit altem Essen, eine Armee aus Tassen, verschüttetes Kaffeegranulat. Zwei Hemden hingen zum Trocknen über dem Heizkörper. Dem Geruch nach zu urteilen stand irgendwo etwas herum, das gerade schlecht wurde.
Seltsam, dachte sie, dass man immer gleich weiß, wenn etwas nicht stimmt – man bekommt einfach ein Gespür dafür. Es lag nicht nur an der offenen Tür und dem Geruch. Auch die Stille hatte etwas Seltsames, als wäre sie von einer Art Summen unterlegt, einem Nachhall von Gewalt. Ihre Haut prickelte.
In der Tür, die vermutlich in Zachs Schlafzimmer führte und nur einen Spalt offenstand, entdeckte sie einen weiteren Schuh, einen braunen Leinenschuh mit gelben Schnürsenkeln. Sie schob die Tür mit den Fingerspitzen auf. Der Schuh gehörte zu einem Fuß. Ein Stück Bein lag auch frei. Es steckte in einer dunklen Hose, die ein Stück hochgerutscht war, so dass man eine gestreifte Socke sehen konnte. Auf allem anderen lag aber eine gemusterte Tagesdecke. Yvette registrierte das Muster: Vögel und durcheinanderwirbelnde Blumen. Es sah orientalisch aus und peppte die graubraune Tristesse dieser schäbigen kleinen Bude ein wenig auf.
Yvette warf einen Blick auf ihre Armbanduhr und notierte sich die Uhrzeit, ehe sie in die Hocke ging und ganz vorsichtig die Decke wegzog. Dabei spürte sie deutlich, wie vollgesogen und klebrig die gesteppten Stoffschichten waren. Erst jetzt, aus der Nähe, sah sie die Flecken, die sie in dem lebhaften Muster anfangs gar nicht bemerkt hatte.
Aller Wahrscheinlichkeit nach
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