Schwarzer Mond: Roman
ihr geliebter Vater Weihnachten immer in säkularisiertem Sinne mitgefeiert, weil er die Harmonie und menschliche Wärme liebte, die dieses Fest ausstrahlte. Auch nach seinem Tod war der 25. Dezember für Ginger immer ein besonderer Tag geblieben, ein Tag der Freude. Bis zu diesem Jahr hatte Weihnachten sie nie deprimiert.
George und Rita Hannaby taten ihr möglichstes, um Ginger das Gefühl zu vermitteln, dass sie dazugehörte, aber sie blieb sich schmerzlich bewusst, dass sie letztlich doch eine Außenseiterin war. Die drei Söhne der Hannabys waren mit ihren Familien über die Feiertage nach Baywatch gekommen, und das riesige Haus war erfüllt von silberhellem Kinderlachen. Alle bemühten sich, Ginger in die traditionellen Sitten und Gebräuche wie Popcornrösten oder gemeinsames Singen mit einzubeziehen.
Am Weihnachtsmorgen war sie mit von der Partie, als die Kinder sich aufgeregt auf den Berg von Geschenken stürzten.
Sie folgte dem Beispiel der anderen Erwachsenen, kroch mit den Kindern auf dem Boden herum und half ihnen, mit den neuen Spielsachen zu spielen. Für einige Stunden vergaß sie ihre Verzweiflung und wurde unwillkürlich von den Hannabys mitgerissen.
Beim Mittagessen -trotz vieler Delikatessen eine leichte Mahlzeit, sozusagen nur ein Vorgeschmack auf das üppige Festmahl am Abend -kam Ginger sich jedoch bereits wieder deplaciert vor, weil in den Gesprächen bei Tisch immer wieder Erinnerungen an frühere Feste wachgerufen wurden, an denen sie ja nicht teilgenommen hatte.
Nach dem Essen schützte sie Kopfschmerzen vor und flüchtete in ihr Zimmer. Der herrliche Blick auf die Bucht beruhigte sie etwas; sie blieb jedoch tief deprimiert und hoffte inbrünstig, dass Pablo Jackson am nächsten Tag anrufen und ihr mitteilen würde, er habe das Problem von Gedächtnisbarrieren inzwischen studiert und sei bereit, sie wieder zu hypnotisieren.
George und Rita hatten ihren Besuch bei Pablo viel gelassener aufgenommen, als sie befürchtet hatte. Sie waren in Sorge gewesen, weil sie allein losgefahren und damit das Risiko eingegangen war, einen Anfall zu bekommen, ohne dass ein Freund ihr helfen konnte, und sie hatten ihr das Versprechen abgenommen, dass sie in Zukunft Rita oder einem der Dienstboten erlauben würde, sie zu Pablo zu bringen und dort wieder abzuholen; aber sie hatten nicht versucht, ihr die unkonventionelle Behandlungsmethode auszureden, die sie sich von dem Bühnenzauberer erhoffte.
Ginger wandte sich schließlich vom Fenster ab und ging zum Bett, wo sie zu ihrer Überraschung auf dem Nachttisch zwei Bücher liegen sah. Eines war ein Fantasy-Roman von Tim Powers, einem Autor, von dem sie schon einiges gelesen hatte; das andere hatte den Titel >Twilight in Babylon<.
Im Zimmer lag noch ein halbes Dutzend anderer Bücher herum, die sie sich aus der Bibliothek im Erdgeschoss geholt hatte; Lesen war in den letzten zwei Wochen ihre Hauptbeschäftigung gewesen. Aber das Buch von Powers und >Twilight in Babylon< sah sie jetzt zum erstenmal. Ersteres -eine Geschichte von Trollen, die durch die Zeit reisen konnten und während des Unabhängigkeitskrieges ihren eigenen Geheimkrieg gegen britische Kobolde führten - schien ganz entzückend zu sein, eine Art abenteuerliches Märchen, wie ihr Vater sie geliebt hatte. Ein lose beiliegender Zettel wies das Buch als Rezensionsexemplar aus. Rita hatte eine Freundin, die als Rezensentin für den >Globe< arbeitete und ihr manchmal interessante Bücher schickte, bevor sie im Handel erhältlich waren. Diese beiden mussten in den letzten ein, zwei Tagen angekommen sein, und Rita, die Gingers literarischen Geschmack kannte, hatte sie in ihr Zimmer gebracht.
Ginger legte den Powers vorläufig beiseite und nahm >Twilight in Babylon< zur Hand. Der Name des Verfassers - Dominick Corvaisis -war ihr völlig unbekannt, aber die kurze Inhaltsangabe des Romans klang sehr vielversprechend, und nachdem sie die erste Seite gelesen hatte, war sie schon völlig gefesselt. Trotzdem unterbrach sie die Lektüre, um vom Bett in einen der gemütlichen Sessel umzuziehen. Erst dort fiel ihr Blick zufällig auf das Foto des Autors auf dem hinteren Schutzumschlag.
Sie hielt den Atem an. Angst überfiel sie.
Einen Moment lang dachte sie, dass das Foto der Auslöser für einen neuen Anfall sein würde. Sie versuchte, das Buch wegzulegen, war dazu aber nicht imstande; sie versuchte aufzustehen, war aber auch dazu nicht imstande. Sie holte tief Luft, schloss die Augen und wartete, bis
Weitere Kostenlose Bücher