Schwarzer Mond: Roman
ihr Puls sich wieder etwas normalisiert hatte.
Als sie die Augen öffnete und das Foto wieder betrachtete, verstörte es sie immer noch, wenn auch nicht mehr so stark wie beim erstenmal. Sie wusste, dass sie diesem Mann irgendwo schon begegnet war, und zwar nicht unter den günstigsten Umständen, aber sie konnte sich an das Wann und Wo nicht erinnern. Seiner kurzen Biographie auf dem Waschzettel entnahm sie, dass er früher in Portland, Oregon, gelebt hatte und jetzt in Laguna Beach wohnte. Da sie sich nie an einem der beiden Orte aufgehalten hatte, konnte sie sich nicht vorstellen, wo ihre Wege sich gekreuzt haben könnten.
Dominick Corvaisis musste etwa 35 Jahre alt sein und hatte ein sympathisches Gesicht, das Ginger an Anthony Perkins in jungen Jahren erinnerte. Es war wirklich merkwürdig, dass sie völlig vergessen haben sollte, wo sie diesem gutaussehenden Mann begegnet war.
Noch unverständlicher war ihre heftige Reaktion auf das Foto. In den vergangenen zwei Monaten hatte sie gelernt, auf seltsame Vorfälle zu achten und nach ihrer Bedeutung zu fragen, auch wenn sie noch so unwichtig und unsinnig zu sein schienen.
Sie starrte noch längere Zeit auf Corvaisis' Foto, in der vergeblichen Hoffnung, dass das ihrem Gedächtnis auf die Sprünge helfen würde. Schließlich schlug sie -mit der fast hellseherischen Vorahnung, dass >Twilight in Babylon< irgendwie ihr Leben verändern würde - das Buch auf und begann zu lesen.
Chicago, Illinois
Von der Universitätsklinik fuhr Vater Stefan Wycazik zum Laboratorium der SID -der Wissenschaftlichen Untersuchungsabteilung des Chicagoer Polizeipräsidiums. Trotz des Weihnachtsfestes waren städtische Arbeiter damit beschäftigt, den in der Nacht gefallenen Schnee auf den Straßen zu räumen.
Im Polizeilabor, das in einem alten Regierungsgebäude untergebracht war, hatten nur wenige Männer Dienst, und in den leeren, hohen Räumen hallte jeder Schritt gespenstisch wider.
Normalerweise gab das Labor nur der Polizei und den Gerichtsbehörden irgendwelche Auskünfte. Aber von den Chicagoer Polizeibeamten war etwa die Hälfte katholisch, und Vater Wycazik hatte mehrere gute Freunde in höheren Positionen, die er angerufen und gebeten hatte, ihm bei der SID den Weg zu ebnen.
Er wurde von Dr. Murphy Aimes empfangen, einem dickbäuchigen Mann mit Vollglatze und Walroßschnurrbart. Sie hatten miteinander telefoniert, bevor Stefan das Pfarrhaus verlassen hatte, und Dr. Aimes hatte schon alles vorbereitet. Sie nahmen auf zwei Hockern an einem Labortisch Platz. Durch ein mit Taubenkot verunziertes Milchglasfenster fiel Licht ein. Aimes hatte auf der Marmorplatte des Tisches einen Aktenordner und mehrere andere Gegenstände bereitgelegt.
»Ich möchte vorausschicken, Vater, dass ich Informationen dieser Art niemals an Unbefugte weitergeben würde, wenn die Möglichkeit bestünde, dass es wegen jener Schießerei in der Imbissstube zum Prozess kommt. Da die beiden Verbrecher jedoch tot sind, kann man ja niemanden mehr vor Gericht stellen.«
»Ich weiß Ihr Entgegenkommen sehr zu schätzen, Dr. Aimes. Und ich bin Ihnen zu großem Dank verpflichtet, dass Sie mir Ihre Zeit widmen.«
In Aimes' Gesicht spiegelte sich Neugier wider. »Ich verstehe nicht so recht, weshalb Sie sich für diesen Fall interessieren«, sagte er.
»Ich selbst bin mir darüber auch noch nicht völlig im klaren«, erwiderte Stefan geheimnisvoll.
Er hatte den höheren Polizeibeamten, die dieses Gespräch ermöglicht hatten, den Grund für sein Interesse nicht verraten, und er hatte nicht die Absicht, Aimes aufzuklären. Wenn er ihnen erzählte, was ihm im Kopf herumging, würden sie ihn für verrückt halten und viel weniger geneigt sein, ihm weiterzuhelfen.
»Nun«, sagte Aimes, sichtlich gekränkt, weil der Priester ihn nicht ins Vertrauen zog, »Sie hatten nach den Kugeln gefragt.« Er holte zwei Klümpchen Blei aus einem Umschlag. »Der Chirurg hat sie aus Winton Tolks Körper herausoperiert. Sie sagten, Sie seien daran besonders interessiert.«
»Das bin ich«, sagte Stefan und nahm sie in die Hand, als Aimes sie ihm hinhielt. »Ich nehme an, dass Sie sie gewogen haben. Soviel ich weiß, gehört das zu den Routineuntersuchungen. Haben sie das Gewicht normaler 38er Kugeln?«
»Wenn Ihre Frage darauf hinausläuft, ob Teilstücke abgesplittert sind, so ist das nicht der Fall. Sie sind so stark verformt, dass sie gegen einen Knochen geprallt sein müssen, deshalb ist es eigentlich erstaunlich, dass
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