Schwarzer Mond: Roman
Überraschung zunächst in seine Muttersprache, dann öffnete er die Tür und setzte sich dem kalten Winterwind aus, um dem großzügigen Spender die Hand zu schütteln.
»Freund«, stammelte er, »Sie können gar nicht ermessen, wieviel Leid Ihre Gabe lindern wird.« Jack wiederholte leise: »Freund ...« In diesem einzigen Wort und in dem warmen Händedruck des Orientalen fand er etwas wieder, das er für immer verloren geglaubt hatte: ein Gefühl der Zugehörigkeit, der Gemeinschaft und Kameradschaft.
Als er wieder im Auto saß, die Bayard Street hinauffuhr und dann nach rechts in die Mott Street abbog, musste er am Straßenrand anhalten, weil er vor Tränen nichts mehr sehen konnte.
Er konnte sich nicht erinnern, jemals in seinem Leben so völlig durcheinander gewesen zu sein. Zum Teil weinte er, weil er glaubte, seine Schuld sei ein untilgbarer Schandfleck auf seiner Seele. Zum Teil waren es jedoch auch Freudentränen, weil er plötzlich vor Brüderlichkeit förmlich überströmte. Fast zehn Jahre hatte er außerhalb der menschlichen Gesellschaft gelebt, hatte sich geistig und seelisch völlig von der Welt abgekapselt.
Jetzt aber verspürte er - zum erstenmal seit Mittelamerika - das Bedürfnis und den Wunsch nach Gemeinschaft mit anderen Menschen, und er wusste auch, dass er jetzt endlich wieder zur Freundschaft fähig sein würde.
Verbitterung war eine Sackgasse. Hass verletzte niemanden so sehr wie den Hassenden selbst. Absonderung führte unweigerlich zu Einsamkeit.
In den letzten acht Jahren hatte er oft um Jenny geweint, und manchmal hatte er auch aus Selbstmitleid geweint. Aber die Tränen, die er jetzt weinte, waren anderer Art als alle früheren, denn es waren reinigende Tränen, läuternde Tränen, die seine Verbitterung und seinen Zorn wegschwemmten.
Er konnte die Ursache für seine plötzliche radikale Wandlung immer noch nicht verstehen. Er spürte jedoch, dass seine Entwicklung noch lange nicht abgeschlossen war und noch viele Überraschungen für ihn bereithalten würde. Er fragte sich, welches wohl seine endgültige Bestimmung sei und auf welchen Wegen er sie erreichen werde.
In jener Nacht in Chinatown war sein Herz endlich wieder von Hoffnung erfüllt.
Elko County, Nevada
Ned und Sandy Sarver konnten die Imbis sstube zu zweit führen, weil beide harte Arbeit nicht scheuten, weil ihre Speisenauswahl klein war und nicht zuletzt, weil Ned als Koch in der US-Armee gelernt hatte, gutes Essen schnell und rationell zuzubereiten. Trotzdem war Ned abends immer heilfroh, dass Ernie und Faye den Motelgästen ein leichtes Frühstück aufs Zimmer brachten, so dass der Tranquility Grille erst zum Mittagessen öffnen musste.
Während er am Samstagabend Hamburger, Pommes frites und Chili-Dogs vorbereitete, beobachtete Ned Sarver zwischendurch immer wieder Sandy bei der Arbeit. Er konnte ihr plötzliches Aufblühen immer noch nicht fassen. Sie hatte zehn Pfund zugenommen, und ihre Figur wies jetzt reizvolle weibliche Rundungen auf. Sie schlurfte auch nicht mehr mit hängenden Schultern und eingezogenem Kopf umher, sondern bewegte sich mit geschmeidiger Anmut und strahlte Lebensfreude und gute Laune aus.
Er war nicht der einzige Mann, der Augen für diese neue Sandy hatte. Manch einer der Fernfahrer studierte aufmerksam ihre Kurven, wenn sie Speisen oder Getränke servierte.
Bis vor kurzem war Sandy zu den Gästen zwar höflich, aber doch sehr zurückhaltend gewesen. Auch das hatte sich geändert. Sie war zwar immer noch etwas schüchtern, aber sie ging auf die Späße der Fernfahrer ein und konnte dumme Bemerkungen erstaunlich schlagfertig parieren.
Zum erstenmal in den acht Jahren ihrer Ehe fürchtete Ned, dass er Sandy verlieren könnte. Er wusste, dass sie ihn liebte, und er sagte sich natürlich, dass die Veränderungen in ihrer äußerlichen Erscheinung und in ihrem Wesen durchaus keine negativen Auswirkungen auf ihre gegenseitige Beziehung zu haben brauchten, aber gerade das befürchtete er insgeheim doch.
Als Sandy an diesem Morgen nach Elko gefahren war, um Ernie und Faye vom Flughafen abzuholen, hatte Ned befürchtet, dass sie nicht zurückkommen würde. Vielleicht würde sie einfach immer weiterfahren, bis sie irgendeinen Ort fand, der ihr besser gefiel als Nevada, bis sie einem Mann begegnete, der besser aussah und erfolgreicher war als er selbst. Er wusste, dass er Sandy mit solchem Misstrauen unrecht tat, dass sie ihm treu war und ihn nie im Stich lassen würde. Und dennoch hatte
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