Schwarzer Mond: Roman
nicht hatte erreichen können. Sie saßen einander gegenüber an dem großen Eichenschreibtisch. Eine Kanne Kaffee stand in Reichweite auf einer elektrischen Warmhalteplatte.
Ernie setzte ein Telegramm für Gerald Salcoe auf, jenen Mann, der für sich und seine Familie am 6. Juli zwei Zimmer belegt hatte, dessen Telefonnummer in Monterey, Kalifornien, jedoch nicht registriert war. Faye blätterte währenddessen das Register des Vorjahres durch und suchte nach der letzten Eintragung des Fernfahrers Cal Sharkle, in der Hoffnung, dass er seine neue Adresse und Telefonnummer eingetragen hatte.
Während sie so ihren verschiedenen Beschäftigungen nachgingen, musste Ernie daran denken, dass sie in den 31 Jahren ihrer Ehe schon unzählige Male so gesessen hatten, an einem Schreibtisch oder, häufiger, an einem Küchentisch. In irgendeiner Wohnung oder irgendeinem Haus in irgendeinem Land der Erde -ob nun in Quantico, Pendleton oder Singapur, fast überall, wo er stationiert gewesen war -hatten sie lange Abende an Küchentischen verbracht, gearbeitet oder geträumt oder sich Sorgen gemacht oder glücklich Pläne geschmiedet, oft bis spät in die Nacht hinein. Diese Tausende und Abertausende gemeinsamer Arbeiten und Beratungen zogen vor Ernies geistigem Auge vorüber, und er dachte wieder einmal, welches Glück er doch gehabt hatte, Faye zu finden und zu heiraten. Sie waren so innig miteinander verbunden, dass sie schon fast eins waren. Wenn Colonel Falkirk oder andere Leute vor Mord nicht zurückschrecken würden, um den Recherchen der kleinen Gruppe ein Ende zu setzen, wenn Faye irgend etwas zustieß, so hoffte Ernie von Herzen, dass er mit ihr zusammen sterben würde.
Er gab das Telegramm per Telefon an Western Union durch und bat um sofortige Zustellung - und dabei wurde er von einer Liebe durchdrungen, die so stark war, dass die gefährliche Situation, in der sie schwebten, etwas von ihrem Schrecken verlor.
Faye stellte fest, dass Cal Sharkle im vergangenen Jahr fünfmal im Motel übernachtet hatte - und jedesmal hatte er jene Adresse und Telefonnummer in Evanston, Illinois, angegeben wie schon am 6. Juli des vorletzten Jahres. Anscheinend war er doch nicht umgezogen.
Als sie die Nummer jedoch wählte, hörte sie wieder nur das Band mit der Auskunft: »Kein Anschluss unter dieser Nummer.«
Faye rief die Auskunft an und fragte nach der Telefonnummer von Calvin Sharkle in Chicago - für den Fall, dass er aus Evanston vielleicht in die Großstadt umgezogen war. Aber es gab auch dort keinen Anschluss. Anhand einer Karte von Illinois riefen Ernie und Faye nun auch die Auskunftszentralen der Chicagoer Vororte an: Whiting, Hammond, Calumet City, Markham, Downer's Grove, Oak Park, Oakbrook, Elmhurst, Des Plaines, Rolling Meadows, Arlington Heights, Skokie, Wilmette, Glencoe ... Nichts.
Entweder hatte Cal Sharkle die Chicagoer Gegend verlassen, oder er war vom Erdboden verschluckt worden.
Während Faye und Ernie im Empfangsbüro des Motels tätig waren, bereiteten Ned und Sandy Sarver in der Küche im ersten Stock schon das Abendessen zu. Brendan Cronin aus Chicago wurde erwartet, ebenso Jorja Monatella mit ihrer kleinen Tochter - das bedeutete Abendessen für neun Personen, und Ned wollte nicht alles in letzter Minute erledigen müssen. Am Vorabend, als sie zu sechst gemeinsam das Essen zubereitet hatten, hatte Ginger Weiss das Gefühl eines Familienfestes gehabt; und tatsächlich fühlten sich alle einander sehr nahe, obwohl sie sich doch kaum kannten. Aus der Idee heraus, dass eine weitere Vertiefung ihrer Kameradschaft und Zuneigung ihnen Kraft für die bevorstehenden Probleme geben könnte, hatten Ned und Sandy beschlossen, dass es abends ein Festmahl wie zu Thanksgiving geben sollte: einen sechzehn Pfund schweren Truthahn mit Hickorynussfüllung, Bratkartoffeln, Mais, Karotten, Paprika- und Krautsalat, Kürbistorte und Hörnchen.
Während sie Sellerie und Zwiebeln hackten, Kohl rieben und Brot in Würfel schnitten, ging Ned mitunter der Gedanke durch den Kopf, ob dieses Festmahl nicht zugleich auch ihre Henkersmahlzeit sein würde. Er versuchte jedesmal, diese morbide Idee zu verdrängen, indem er Sandy bei der Arbeit beobachtete. Sie lächelte fast ständig und summte manchmal ein Lied vor sich hin. Ein Ereignis, das bei Sandy eine so radikale und wundervolle Veränderung bewirkt hatte, konnte nicht mit ihrer aller Tod enden, versuchte Ned sich einzureden. Sie hatten gewiss nichts zu befürchten. Ganz bestimmt
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