Schwarzer Mond: Roman
Recht stolz auf ihre Haare. Sie waren dick, glänzend und rabenschwarz, und diese üppige Haarpracht stand in herzbeklemmendem Gegensatz zu ihrem gebrechlichen Körper. Sie liebte es, ihre Haare jeden Tag mit hundert Bürstenstrichen zu pflegen, aber oft waren ihre Hand-und Fingergelenke so entzündet, dass sie die Bürste nicht halten konnte.
Am Mittwoch setzte Brendan sie in einen Rollstuhl und brachte sie in die Röntgenabteilung, wo festgestellt werden sollte, wie sie auf ein neues Medikament für ihr Knochenmark ansprach. Nachdem er sie eine Stunde später in ihr Zimmer zurückgefahren hatte, bürstete er ihr die Haare. Emmeline saß dabei im Rollstuhl und schaute aus dem Fenster. Die Winterlandschaft versetzte das Mädchen in helle Begeisterung.
Mit einer knotigen Hand, die besser zu einer achtzigjährigen Greisin gepasst hätte, deutete sie auf das Dach eines niedrigeren Flügels der Klinik. »Siehst du den Schneefleck dort unten, Pudge?«
Die Wärme im Gebäude hatte den größten Teil des Schnees vom Dach rutschen lassen, aber ein großer Fleck war übriggeblieben und hob sich grell von den dunklen Schieferplatten ab.
»Er sieht wie ein Schiff aus«, sagte Emmy. »Seine Form. Siehst du es auch? Ein schönes altes Schiff mit drei weißen Segeln, das über ein schieferfarbenes Meer gleitet.«
Zunächst konnte Brendan beim besten Willen kein Schiff erkennen. Aber sie fuhr fort, es zu beschreiben, und als er zum viertenmal von ihren Haaren aufblickte, sah er plötzlich, dass der Schneefleck tatsächlich eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit einem Segelschiff hatte.
Für Brendan waren die langen Eiszapfen vor Emmys Fenster durchsichtige Gitterstäbe, und das Krankenhaus schien ihm ein Gefängnis zu sein, aus dem sie vielleicht nie entlassen werden würde. Für Emmy waren die gefrorenen Stalaktiten jedoch wunderbare Weihnachtsdekorationen, die sie - wie sie sagte - in Feststimmung versetzten.
»Gott liebt den Winter genauso wie den Frühling«, erzählte sie. »Er hat uns die Jahreszeiten geschenkt, damit uns die Welt nie langweilig wird. Das hat Schwester Katherine uns gesagt, und ich begriff sofort, dass es stimmte. Wenn die Sonne auf diese Eiszapfen fällt, werfen sie Regenbogen über mein Bett. Wunderwunderschöne Regenbogen, Pudge! Eis und Schnee sind wie ... wie Juwelen ... und wie Hermelinmäntel, die Gott benutzt, um die Welt im Winter anzuziehen, damit wir >oh< und >ah< machen. Deshalb erschafft er auch nie zwei gleiche Schneeflocken: Er will uns daran erinnern, dass die Welt, die er für uns erschaffen hat, eine wundervolle, herrliche Welt ist.«
Wie auf ein Stichwort hin begannen Schneeflocken vom grauen Dezemberhimmel herabzuschweben.
Trotz ihrer fast gebrauchsunfähigen Beine und ihrer verkrümmten Hände, trotz ihrer Schmerzen glaubte Emmy fest daran, dass Gott gut war, dass die von ihm erschaffene Welt richtig war.
Starker Glaube war erstaunlicherweise charakteristisch für fast alle Kinder im St. Joseph's Hospital. Sie blieben überzeugt davon, dass ein liebender Vater von seinem himmlischen Königreich aus über sie wachte, und das gab ihnen Kraft und Mut.
Brendan konnte im Geiste Vater Wycazik sagen hören: Wenn diese Unschuldigen so viel leiden können, ohne ihren Glauben zu verlieren, welche kümmerliche Entschuldigung gibt es dann für Sie, Brendan? Vielleicht wissen diese Kinder in ihrer Unschuld und Naivität etwas, das Sie vergessen haben, während Sie in Rom Ihre schwierigen Studien betrieben. Vielleicht können Sie etwas daraus lernen, Brendan. Was meinen Sie? Können Sie vielleicht etwas daraus lernen?
Aber die Lektion war nicht stark genug, um Brendans Glauben wiederherzustellen. Er war tief gerührt, aber nicht über die Möglichkeit, dass es tatsächlich einen liebenden und erbarmenden Go tt geben könnte, sondern nur über die erstaunliche Tapferkeit der Kinder angesichts ihrer schrecklichen Krankheiten.
Er fügte den üblichen hundert Bürstenstrichen noch zehn hinzu, was Emmy entzückte, dann hob er sie aus dem Rollstuhl und legte sie in ihr Bett. Als er die Decke über ihre mitleiderregend dünnen verkrümmten Beine zog, wurde er plötzlich von der gleichen Rage gepackt wie während jener verhängnisvollen Frühmesse, und wenn ein Messkelch in der Nähe gewesen wäre, so hätte er nicht gezögert, ihn wieder gegen die Wand zu schleudern.
Emmy stieß einen erschrockenen Laut aus, und Brendan hatte das verrückte Gefühl, sie könnte seine blasphemischen Gedanken
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