Schwarzer Mond: Roman
Zeile?«
»Etwas seltsam ist es schon«, gab Faye zu.
Er nahm ihr das Foto aus der Hand. »Außerdem ist das eine Polaroid-Aufnahme, die sofort entwickelt war. Die hätten sie doch auch gleich dalassen können, als sie hier bei uns waren.«
Die Tür wurde geöffnet, und ein Mann mit lockigem Haar und buschigem Schnurrbart betrat fröstelnd das Büro. »Sind noch Zimmer frei?« fragte er.
Während Faye sich um den Gast kümmerte, ging Ernie mit dem Foto in der Hand zum Schreibtisch. Er wollte die Post nach oben bringen. Statt dessen blieb er aber neben dem Schreibtisch stehen und starrte auf die Gesichter der Personen auf dem Schnappschuss.
Es war Dienstagabend, der 10. Dezember.
8. Chicago, Illinois
Als Brendan Cronin seine Arbeit als Krankenpfleger in der Kinderklinik aufnahm, wusste nur Dr. Jim McMurtry, dass er in Wirklichkeit Priester war. Der Arzt hatte Vater Wycazik zugesichert, dass er niemandem etwas davon verraten würde und dass man Brendan die gleichen Arbeiten -einschließlich aller unangenehmen Beschäftigungen -zuteilen würde wie jedem anderen Pfleger auch. An seinem ersten Tag im Krankenhaus leerte er folglich Bettpfannen, wechselte urindurchtränkte Laken, assistierte einer Krankengymnastin, die Bewegungsübungen mit bettlägerigen Patienten machte, fütterte einen achtjährigen, partiell gelähmten Jungen, schob Rollstühle, ermutigte verzagte Patienten, wischte das Erbrochene von zwei kleinen Krebspatienten auf, denen die Chemotherapie Übelkeit verursachte. Niemand verhätschelte ihn, niemand redete ihn mit >Vater< an. Die Schwestern, Pfleger, Ärzte und Patienten nannten ihn einfach >Brendan<, und er fühlte sich denkbar unwohl, so als müsste er sich wider Willen an einer Maskerade beteiligen.
An diesem ersten Tag zog er sich - von tiefem Mitleid für die kranken Kinder überwältigt -zweimal in die Herrentoilette für das Personal zurück, schloss sich in einer Kabine ein und weinte.
Der Anblick der deformierten Beine und geschwollenen Gelenke der Patienten, die an rheumatischer Arthritis litten, war so grauenvoll, dass er ihn kaum ertragen konnte. Die mangelhafte Gewebsspannung der an Muskeldystrophie Erkrankten, die eiternden Wunden der Brandopfer, die striemenübersäten Körper der von ihren Eltern misshandelten Kinder: Er weinte um sie alle.
Es war ihm unbegreiflich, wie Vater Wycazik glauben konnte, dass diese Arbeit ihm helfen würde, seinen verlorenen Glauben wiederzufinden. All diese schmerzgepeinigten Kinder verstärkten höchstens noch seine Zweifel. Wenn der gnädige Gott des Katholizismus wirklich existierte, wenn es Christus gab, wie konnte er dann zulassen, dass unschuldige Kinder solche Leiden erdulden mussten? Selbstverständlich waren Brendan alle klassischen theologischen Argumente in bezug auf dieses Problem bestens bekannt. Die Menschheit hatte alle Formen des Bösen durch einen freien Willensakt selbst über sich gebracht, indem sie sich von der göttlichen Gnade abwandte. Aber derartige theologische Argumente verloren jegliche Überzeugungskraft, wenn man diese kleinen Opfer des Schicksals dann wirklich vor Augen hatte.
Am zweiten Tag wurde er vom Personal immer noch mit >Brendan< angeredet, aber die Kinder nannten ihn >Pudge< - er hatte ihnen seinen seit langem außer Gebrauch gekommenen Spitznamen verraten, als er ihnen eine lustige Geschichte erzählte. Sie liebten seine Geschichten, Späße, Reime und Wortspiele, und er entdeckte, dass er sie fast immer zum Lachen bringen oder ihnen zumindest ein Lächeln abgewinnen konnte. An jenem Tag weinte er nur noch einmal in der Toilette.
Am dritten Tag wurde er sowohl von den Kindern als auch vom Personal nur noch >Pudge< genannt. Er entdeckte in der Kinderklinik ein neues ungeahntes Talent. Neben den gewissenhaft ausgeführten Pflichten eines Krankenpflegers unterhielt er die Patienten mit komischen Redensarten, neckte sie, munterte sie auf, ließ sie für kurze Zeit ihre Schmerzen vergessen.
Wohin er auch ging, er wurde mit freudigen >Pudge!<-Rufen begrüßt, und das war für ihn eine schönere Belohnung als Geld.
Und er weinte erst in dem Hotelzimmer, das er für die Dauer von Vater Wycaziks ungewöhnlicher Therapie gemietet hatte.
Am Mittwochnachmittag, seinem siebten Arbeitstag, wusste er, weshalb Vater Wycazik ihn ins St. Joseph's Hospital geschickt hatte. Er begriff es, während er die Haare eines zehnjährigen Mädchens bürstete, das durch ein seltenes Knochenleiden verkrüppelt war.
Emmeline war zu
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