Schwarzer Mond über Soho: Roman (German Edition)
erfreuliche Begleiterscheinung. Wo sich die Road und die Avenue kreuzen, entstandder Cambridge Circus, dessen Westseite heute vom Palace Theatre und dessen spätviktorianischer Lebkuchenpracht beherrscht wird. Daneben steht das im selben Stil erbaute Bauwerk, das einst als Wirtshaus George and Dragon bekannt war und heute Spice of Life heißt. Laut Eigenwerbung Londons erste Adresse für guten Jazz.
Damals, als mein Dad noch auftrat, war das Spice of Life alles andere als eine Jazzkneipe. Laut seiner Aussage bestand die Kundschaft aus Typen mit Rollkragenpullovern und Kinnbärten, die Folk hörten und Gedichte rezitierten. In den Sechzigern spielte Bob Dylan dort ein paarmal, und Mick Jagger auch. Aber damit konnte mein Dad gar nichts anfangen – er sagte immer, Rock’n’Roll sei okay für Leute, die von allein nicht in der Lage seien, einem Rhythmus zu folgen.
Bis zu diesem Mittag hatte ich noch nie einen Fuß ins Spice of Life gesetzt. Vor meiner Zeit als Polizist war es nicht die Art Pub, wo ich was trinken ging, und seither war es nicht die Art Pub, wo ich Leute verhaftete.
Ich hatte meinen Besuch so gelegt, dass ich den Mittagsandrang vermied, was bedeutete, dass die Menge, die sich am Circus auf die Füße trat, hauptsächlich aus Touristen bestand und es im Pub angenehm kühl, dämmrig und leer war. In der Luft hing ein Hauch von Reinigungsmitteln, der versuchte, sich gegen Jahre verschütteten Biers zu behaupten. Ich wollte ein Gefühl für den Ort bekommen, und die natürlichste Methode dafür schien mir, an der Theke ein Bier zu trinken. Weil ich im Dienst war, nahm ich nur ein kleines. Anders als vielen Londoner Pubs war es dem Spice of Life gelungen, sich seine Einrichtung aus poliertem Holz und Messing zu erhalten und trotzdemnicht ins Kitschige abzugleiten. Als ich an der Theke stand und den ersten Schluck nahm, wehte mich eine Ahnung von Pferdeschweiß und Gehämmer auf einem Amboss an, Rufen und Lachen, der ferne Schrei einer Frau und Tabakgeruch – ziemlich typisch für ein Pub mitten in London.
Die Söhne von Mūsa ibn Shākir waren scharfsinnig und kühn, und wären sie keine Muslime gewesen, sie wären heute vermutlich die Schutzheiligen der Nerds und Erfinder. Sie sind berühmt für ihren im neunten Jahrhundert in Bagdad verfassten Bestseller, eine Sammlung von Beschreibungen genialer technischer Erfindungen, die sie originellerweise auch genauso nannten:
Kitab al-Hiyal
, das Buch der genialen Erfindungen. Darin beschreiben sie den wohl ersten brauchbaren Apparat, mit dem man Druckdifferenzen messen kann. Damit ging es erst richtig los. 1593 nahm sich Galileo Galilei eine Auszeit von seinen Hauptbeschäftigungen Astronomie und Ketzerei und erfand mal rasch ein Thermoskop, also einen Hitzemesser. 1833 erfand Carl Friedrich Gauß ein Gerät zum Bestimmen der Stärke eines Magnetfelds, und 1908 baute Hans Geiger ein Instrument, das ionisierende Strahlung aufspürte. Heutzutage entdecken Astronomen Planeten, die um weit entfernte Sterne kreisen, indem sie messen, wie stark deren Umlaufbahn eiert, und die klugen Köpfe bei CERN lassen haufenweise Partikel aufeinanderprallen in der Hoffnung, dass irgendwann Doctor Who auftaucht und ihnen sagt, sie können aufhören. Die Geschichte der Technik, mit deren Hilfe wir das physische Universum messen, ist die Geschichte der Wissenschaft selbst.
Und was hatten Nightingale und ich, um
Vestigia
zu messen? Einen feuchten Dreck – und es ist auch nicht so,als ob wir gewusst hätten, was wir überhaupt messen sollten. Kein Wunder, dass die Erben von Isaac Newton die Magie sicher unter ihren gepuderten Perücken verwahrten. Der Not gehorchend hatte ich eine eigene Skala für
Vestigia
aufgestellt, die auf der Stärke von Tobys Gekläff basierte, wenn er mit Magieresten in Berührung kam. Meine Einheit war das Wuff. Ein Wuff entsprach einem
Vestigium
in einer Stärke, dass ich es spontan spürte, ohne danach zu suchen.
Ein Eintrag im
Internationalen Einheitensystem
war eigentlich nur eine Frage der Zeit. Ich legte jedenfalls die Standard-Hintergrundmagie eines Pubs in der Londoner Innenstadt als 0,2 Wuff (0,2 wf) oder 200 Milliwuff (200 mwf) fest. Als ich das zu meiner Zufriedenheit geklärt hatte, trank ich mein Bier aus und machte mich auf den Weg in den Keller, wo der Jazz wohnte.
Über eine knarrende Treppe erreichte ich die Backstage Bar, einen annähernd achteckigen Raum mit niedriger Decke und vereinzelten dicken cremefarbenen
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