Schwarzer Neckar
Schreibtisch saß, spürte er, dass seine linke Gesichtshälfte brannte wie Feuer. Über dem Auge klaffte ein Riss, und unterhalb des Wangenknochens bildete sich eine mächtige Schwellung. Ein Bluterguss zog sich bis fast hinunter zum Kinn und würde bald rot-bläulich schimmern.
Seine Gedanken kreisten schon wieder um das Aussageprotokoll vom Vorabend. Wen hatte Lisa so gut gekannt, dass sie ihn in die Wohnung zu einem Glas Sekt einlud? Mit einem Papiertaschentuch tupfte Treidler sich vorsichtig die verletzte Wange ab. Freilich gab es genügend Freundinnen Lisas, die Sekt tranken. Aber der Mörder musste ein Mann gewesen sein. Davon waren die Ermittler damals ausgegangen. Die Verletzungen und der rekonstruierte Ablauf ließen keine andere Schlussfolgerung zu. Und dass sie Alkohol getrunken haben könnte, schloss er kategorisch aus. Vielleicht sollte er sich ein weiteres Mal die Tatortfotos anschauen. Besonders die drei Stück, die im unteren Stockwerk aufgenommen wurden.
Treidler öffnete die unterste Schreibtischschublade, schob die Wodkaflaschen beiseite und kramte nach der Aktenmappe. Er durchsuchte die Unterlagen nach einer Handvoll Farbausdrucke, die ausnahmsweise nicht von Amstetter stammten. Kleinert, Winklers damaliger Kollege, hatte den Stapel ein paar Tage vor seinem Herzinfarkt im Vernehmungszimmer liegen lassen. Treidler wusste heute noch nicht, ob der Mann es absichtlich getan hatte oder die Fotos tatsächlich vergessen hatte.
»Soll ich etwas Eis bringen?«, riss ihn plötzlich eine Stimme aus den Gedanken. Er blickte auf. Anita Schober stand breitbeinig und mit nervösen roten Flecken im Gesicht vor Treidlers Schreibtisch. Sie schaute besorgt drein. Das Dirndl vom Vortag war einer weißen Rüschenbluse gewichen, die in einem weiten, unmodernen Faltenrock aus abgenutztem Leinen steckte.
»Nein, geht schon, Frau Schober …« Treidler versuchte, die Fotos auf seinem Schreibtisch mit dem Pappdeckel der Mappe abzudecken. Vorsichtig schüttelte er den Kopf und spürte sogleich eine leichte Erschütterung im Kiefer.
»Das ist von heute Nacht …«
Treidler reagierte nicht, sondern machte bedächtige Kaubewegungen. Ein Knacken ließ ihn jäh innehalten.
»Das ist heute Nacht gekommen«, wiederholte Anita Schober. Ihre besorgte Miene war inzwischen einem Gesichtsausdruck gewichen, der ihre Erregung nicht verbergen konnte. Sie wedelte mit einem Stück Papier.
»Das sagten Sie bereits, Frau Schober. Aber was ist es denn?«, warf er ein, bevor sie sich ein drittes Mal wiederholen konnte.
Schober blickte irritiert auf das Papier in ihrer Hand und dann wieder zu Treidler. »Es ist auf Englisch, sieht aber offiziell aus. Taj… Taj… ikistan steht da … und Embassy … Berlin.« Sie reckte ihr Kinn in die Höhe und fügte in einem bestimmenden Tonfall hinzu: »Das ist vermutlich wichtig und hat mit dem Mordfall drüben in Florheim zu tun.«
»Im Moment ist ein recht ungünstiger Zeitpunkt für Mutmaßungen, Frau Schober. Geben Sie das Fax doch einfach mal her.«
Nach einem auffordernden Blick reichte sie Treidler das Blatt und wartete augenfällig auf eine Reaktion. Als er nichts erwiderte, stapfte sie schnaubend davon. Vermutlich wäre sie gern noch etwas länger in die Mordermittlungen involviert gewesen.
Treidler hielt sich abermals die Hand an die linke Wange und schob seinen Unterkiefer hin und her. Zufrieden nahm er zur Kenntnis, dass das Knacken mit jedem Mal nachließ. Er betrachtete den Ausdruck genauer. Der Briefkopf mit einem Wappen, umrahmt von kyrillischen Buchstaben, und die Anschrift »Unter den Linden, Berlin« deuteten in der Tat auf ein Schreiben der tadschikischen Botschaft hin.
Der Absender hatte sich Mühe gemacht. Das Fax bestand aus einigen einleitenden Sätzen sowie einer Tabelle mit zwei Spalten und mehreren Zeilen. Treidlers Englischkenntnisse reichten aus, um zu erkennen, dass er die Antwort auf das Amtshilfeersuchen nach dem Registerauszug des Mordopfers in Händen hielt. Er überflog die Sätze. Erst der Tabelle am Ende der Seite widmete er seine ganze Aufmerksamkeit. Bereits die erste Zeile verriet, dass es sich um die Einträge der Propiska Nummer 154744 handelte.
Wie Melchior schon am Tag des Mordes richtig entziffert hatte, gehörte der Registerauszug zu einem Mann namens Johann Nowak. Treidler fiel auf: Aus dem W in seinem Nachnamen war von Hand ein V gemacht worden. Folglich lautete die korrekte russische Transliteration »Novak« und nicht »Nowak«. Dies jedoch
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