Schwarzer Neckar
richtig? Aber Sie konnten nicht wegen Ihres Vaters, dem Stasi-Oberst Friedhelm Melchior. So haben Sie kurzerhand den Fluchtversuch verraten und waren fein aus dem Schneider. Natürlich hat die Stasi dafür gesorgt, dass der Name Melchior nicht an die Öffentlichkeit gelangt ist. Nur in die Akten. Aber nicht alle sind bei der Gauck-Behörde gelandet. Ihre beispielsweise hat den Weg direkt zu mir gefunden.«
Obwohl sie schon lange wusste, dass dem Dezernat ihre Stasi-Akte vorlag, schluckte Melchior.
»Es ist schlicht unglaublich, was die bei der Stasi so alles aufgeschrieben haben. Gewicht, Statur, Konfektionsgröße bis hin zu Ihrer Körbchengröße und einige andere, wie soll ich sagen, ziemlich persönliche Dinge …«
»Sie hätten besser nicht gleich danach mit Lesen aufgehört«, unterbrach ihn Melchior.
Burghardt ließ ein paar Augenblicke verstreichen, ohne dass sie einordnen konnte, was sein plötzliches Schweigen zu bedeuten hatte. »In Ihren Akten steht übrigens auch, dass es einer der jungen Männer nicht geschafft hat.«
Melchior zuckte unwillkürlich zusammen, und echter, fühlbarer Schmerz durchfuhr ihren Körper. Sie hätte diesen Anruf ignorieren sollen. Sie hielt sich mit der Hand den Mund zu, um jeden Laut zu unterdrücken.
Als ob Burghardt ihre Betroffenheit am anderen Ende der Leitung spürte, verlieh er seiner Stimme einen vorwurfsvollen Klang. »Sein Kreuz hängt jetzt am Spreeufer, neben einem Dutzend weiterer. Sie schauen bestimmt nach wie vor weg, wenn Sie dort vorbeigehen. Wie hieß er noch gleich? Lassen Sie mich überlegen: Franco Lindemann? Damals war er noch ein halbes Kind, nicht?«
Das Spreeufer am Reichstag. Sie kannte den Ort nur von Bildern. Auch nach all den Jahren mied sie die Ostseite des Gebäudes, dort, wo die weißen Kreuze hingen. Sie wusste, dass jedes den Namen und das Todesdatum eines Mauerflüchtlings trug. Und für eines der Kreuze gab es nur eine Schuldige: Carina Melchior. Sie zitterte. Und sie verspürte Wut, unbändige Wut auf den Mann am anderen Ende der Leitung. Doch sie wollte die Aufzeichnung des Gespräches nicht umsonst riskiert haben. »Und was kommt als Nächstes? Wen muss ich bespitzeln?«
»Das kann ich Ihnen heute noch nicht beantworten, Frau Melchior.« Burghardt blieb so ruhig, als ob er beim Bäcker gegenüber ein paar Brötchen bestellte. »Aber uns fällt sicher etwas ein. Aus diesem Grund bekomme ich schließlich jeden Monat mein Gehalt überwiesen.«
»Sie verfluchtes Arschloch.«
»Immer wieder gern«, gab er zurück. »Wissen Sie, was mir wirklich am besten an der ganzen Sache gefällt? Was zu Ihnen passt wie die Faust aufs Auge?«
Die nächste Demütigung stand ihr bevor, und Melchior wappnete sich: »Nein. Aber ich fürchte, dass ich Sie nicht darin hindern kann, es mir zu verraten.«
»Ihr Deckname«, prustete Burghardt los. »› IM Tochter‹.«
Melchior nahm sein höhnisches Gelächter nur noch gedämpft wahr. Fast so, als ob sie sich die Ohren zuhielte. Da war es wieder: IM – zwei Buchstaben, die ihr entgegenschlugen wie Faustschläge in die Magengrube. Zwei Buchstaben, die sie für immer daran erinnern würden, dass sie Mitschuld hatte am Verrat der Ideale ihres ehemaligen Heimatlandes.
»Leck mich.« Sie drückte das Gespräch weg. Sie konnte ihm nicht länger zuhören und hoffte nur noch, dass er nicht erneut anrief. Das Telefon in ihrer Hand blieb ruhig. Mit zitternden Fingern stoppte Melchior die Aufnahme.
ELF
Donnerstag, 22. Dezember
Treidler hasste Weihnachten. Wie jeden Morgen in den letzten beiden Wochen erinnerte ihn der mannshohe Weihnachtsbaum im Eingangsbereich der Polizeidirektion daran. Und wie immer wandte er seinen Blick ab, stieg die Treppe hinauf und trat auf den hell erleuchteten Gang, der zu seinem Büro führte. Nach der Fahrt durch die Morgendämmerung blendete das grelle Neonlicht auf dem weißlichen Linoleumboden so stark, dass er die Lider zusammenkneifen musste. Als er die Augen wieder öffnete, sah er ihn.
Obwohl Treidler inzwischen seit ein paar Monaten in der Polizeidirektion ein und aus ging, hatte es der Zufall bisher nicht gewollt, dass er Winkler allein antraf. Jetzt stand der ehemalige Ermittlungsleiter im Mordfall Elisabeth Treidler am Kaffeeautomaten und drückte auf die Tasten. Ansonsten befand sich niemand auf dem Gang. Nicht einmal Borchert, sein aalglatter Schatten. Die plötzliche Gegenwart Winklers überraschte Treidler so sehr, dass er für einen Augenblick nicht wusste, wie er
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