Schwarzer Neckar
sich verhalten sollte. Warten, bis Winkler in seinem Büro verschwand? Oder ihn ignorieren, als ob nichts geschehen wäre?
Er hätte nicht sagen können, was ihn schließlich davon abhielt, einfach an Winkler vorbeizugehen. Vielleicht lag es an seinem Rasierwasser, das ihm schon während des Prozesses täglich um die Nase geweht war. Oder an seinem geschniegelten Äußeren, das der Ermittlungsleiter jeder Kamera präsentierte, die damals vor ihm aufgetaucht war. Schließlich versprach die gute Publicity, seine Chancen auf die Position des Kommissariatsleiters zu erhöhen. Treidler musterte den etwa gleichaltrigen Hauptkommissar von der Seite. Als er bemerkte, wie schäbig sein dunkler Anzug an diesem Morgen wirkte, wurde ihm bewusst, dass der Mann immer den gleichen trug. Während die Gelfrisur mit den hohen Geheimratsecken glänzte wie eh und je, bildete Treidler sich ein, dass der Bauch seither ein gutes Stück gewachsen war. Auch das schwabbelige Kinn unter dem perfekt gestutzten Dreitagebart schien etwas fülliger zu sein als damals.
Obwohl Winkler ihn bemerkt haben musste, blickte er stur geradeaus und wartete darauf, dass die Maschine den Pappbecher freigab. Als sich Treidler wenige Meter vor ihm befand, verlangsamte er seinen Schritt. Er fühlte das Unbehagen des Mannes und kostete das Gefühl aus, indem er noch langsamer ging. Der Kaffeeautomat schaltete ab, und die letzten Reste des Kaffees tropften herunter. Winkler griff nach dem Becher und führte ihn zum Mund, um daran zu nippen. Es war eine einmalige Gelegenheit. Treidler nahm seine Mütze ab und rempelte Winkler in der Bewegung ganz leicht mit dem Ellenbogen an. Der Stoß reichte aus, und ein guter Teil des heißen Kaffees schwappte auf sein Jackett, das weiße Hemd darunter und die rot gestreifte Krawatte. Sofort breitete sich ein hässlicher dunkler Fleck auf seiner Brust bis hinunter zum Bauchnabel aus.
»Treidler, du verfluchtes Arschloch«, presste Winkler mit wütendem Gesicht hervor, als er den ersten Schreck überwunden hatte.
Er ging einfach weiter.
»Treidler …«
Immer noch reagierte er nicht. Dann hörte er Winklers Schritte hinter sich und spürte seine Hand auf der Schulter.
»Treidler«, schrie Winkler. »Bleib stehen, oder ich tret dir eine.«
Treidler hielt inne und drehte sich um. Er blickte in Winklers gerötetes Gesicht. Die Augenbrauen zuckten nervös und verrieten, dass er seinen Ärger nur schwer kontrollieren konnte. Der Kaffee färbte inzwischen nicht nur den weißen Stoff seines Hemdes dunkel, der Fleck zog sich von der Brusttasche über die Knopfreihe des Jacketts bis hinunter zum Hosenladen. Treidler presste die Lippen aufeinander, um nicht laut loszulachen. Winklers Halsschlagader schwoll an. Er sah aus, als ob er im nächsten Augenblick vor Wut platzen würde.
»Hast du mir nichts zu sagen, Treidler?«, polterte er los.
»Wieso? Sollte ich?«, entgegnete der und versuchte, ein gleichgültiges Gesicht zu machen.
»Bist du blind?« Winkler deutete auf seinen Anzug.
»Ach ja, stimmt. Ist mir zuerst nicht aufgefallen. Du hast da etwas auf deiner Krawatte.« Treidler lächelte spöttisch. »Auch auf deinem Hemd – und auf deinem Jackett. Ja, selbst auf der Hose.« Er spürte, wie sein Lächeln breiter wurde. Ein gutes Gefühl. »Vielleicht solltest du dich umziehen – sieht echt scheiße aus, so mit dem Kaffeefleck im Schritt …«
Winklers Augen funkelten vor Zorn. »Was glaubst du eigentlich, wer du bist, du blöder Wichser? Denkst du tatsächlich, dass du durch deine Klage wieder einer von uns wirst? Einen Scheißdreck wirst du.« Er atmete schwer. »Du hattest doch nur Glück, dass der Richter das Verfahren eingestellt hat. Ich bin mir sicher, dass du kurz zuvor mit Kleinert noch Beweise beiseitegeschafft hast.« Winkler schnaufte ein weiteres Mal, dann hob er den Zeigefinger und brüllte mit einem finsteren Blick: »Diese Sache ist nicht erledigt. Ich werde dich schon noch drankriegen.«
»Lass dich nicht aufhalten«, erwiderte Treidler so nüchtern wie möglich und drehte sich zum Gehen. Im nächsten Augenblick spürte er erneut Winklers Griff auf seiner Schulter und fuhr herum. »Fass mich nicht an, du verfluchtes Arschloch«, entfuhr es ihm. »Sonst –«
»Sonst was, du durchgeknallter Psycho?«, unterbrach ihn Winkler.
»Nenn mich nicht Psycho«, entgegnete Treidler ganz ruhig und fixierte sein Gegenüber. »Denn wenn ich ein Psychopath wäre«, er griff unter seinen Wintermantel und öffnete das
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