Schwarzer Neckar
Die Familien wollten wissen, ob die Franzosen wegen der beiden Todesfälle etwas unternehmen würden.«
»Und, haben die was unternommen?«
»Nein«, gab sie zurück. »Sie haben ihn nach Hause geschickt. Er solle sich nicht in ihre Angelegenheiten einmischen, haben sie ihm gesagt. Aber er hatte nicht den Eindruck, dass die Franzosen für den Tod der beiden jungen Männer verantwortlich waren. Und später …« Edda hielt inne.
»Was war später?«, fragte Melchior.
»Später?«, wiederholte sie leise. »Nichts. Er hat sich nicht mehr um die Sache gekümmert.«
»Warum denn nicht?«
»Ein paar Leute aus dem Dorf haben ihm gedroht, weil … na, weil sie gedacht haben, er spioniert für die Franzosen.« Edda schaute wieder auf die Standuhr. Treidler meinte, in ihrem Gesichtsausdruck Nervosität zu erkennen. »Sie müssen jetzt wirklich gehen«, sagte sie, und ihre Hände begannen ganz leicht zu zittern. »Mein Mann kommt gleich. Und er mag keinen überraschenden Besuch.«
»Das sagten Sie bereits, Frau Broghammer«, entgegnete Treidler. »Nur noch eine Frage, und wir gehen wieder: Wo waren Sie in der Nacht von Sonntag auf Montag, sagen wir so zwischen ein Uhr und vier Uhr?«
Erst zuckten ihre Mundwinkel, dann verschwand das sanfte Lächeln und auf der Stirn erschienen zwei tiefe senkrechte Falten. Sie sah jetzt aus, als hätte Treidler sie nach der Ausdehnung des Universums gefragt.
Edda antwortete nicht.
»Frau Broghammer – bitte, es ist wichtig für unsere Ermittlungen«, versuchte es Treidler nochmals.
»Ich … ich weiß es nicht mehr«, stammelte sie kraftlos und stierte auf den gedeckten Mittagstisch.
Ich weiß es nicht mehr. Nach den detailreichen Schilderungen kam diese Antwort unerwartet. Aber Edda schien es nie überwunden zu haben, dass sie ihren Mann so früh verloren hatte. Sie verdrängte die Tatsache bis heute und lebte in den siebziger Jahren weiter, als er noch am Leben gewesen war. Hinzu kam ihre fortgeschrittene Demenz. Es schien ihm nicht ungewöhnlich, dass ihre Erinnerungen an weit zurückliegende Ereignisse völlig intakt waren, während die neueren im Nirgendwo versanken. Ein paar Jahrzehnte spielten dabei keine Rolle. Treidler blickte zu Melchior, die kaum merklich mit dem Kopf nickte.
»Dürfen wir die Tage nochmals vorbeikommen, falls wir weitere Fragen haben, Frau Broghammer?« Melchior versuchte offensichtlich, ihre Stimme so gleichgültig wie möglich klingen zu lassen.
Die alte Edda nickte geistesabwesend. Sie hörte nicht mehr auf mit Nicken, auch nicht, als die beiden sich von ihr verabschiedeten und ins Freie traten.
»Mir fällt da noch was ein.«
Treidler hatte das Auto fast erreicht. Er drehte sich um, als er Eddas Stimme hörte.
»Und das wäre?« Melchior ging ein paar Schritte auf die alte Frau zu, die ihnen gefolgt war.
»Die Soldaten mit den Lastwagen, die sich in Florheim aufgehalten haben, einen Tag, bevor die Franzosen kamen …«
»Was ist mit denen?«
»Das waren keine normalen Soldaten.« Sie schüttelte den Kopf. »Diese Männer haben schwarze Uniformen angehabt. Die haben zur SS gehört, da bin ich mir sicher.«
Melchior horchte auf und schob ihr Kinn nach vorne.
»Ihr Anführer hatte noch nicht mal etwas Offizielles an, keine Uniform oder so etwas. Nur einen langen, dunklen Ledermantel.«
Gestapo, fuhr es Treidler durch den Kopf.
»Jedenfalls haben die den Frieder am Kastanienbaum vor dem ›Löwen‹ aufgehängt.« Eddas Gesicht zeigte keinerlei Regung.
»Welchen Frieder?«, fragte Treidler.
»Na, den Friedrich Merkle. Der war etwas älter und schon Soldat. Er hat immer mit dem Johann und den anderen beiden zusammengesteckt, dem Kopfler Manfred und dem Jungen vom Bäcker Barreis.«
FÜNFZEHN
Merkle, Kopfler, Barreis, Novak. Auf der Rückfahrt in die Polizeidirektion ließ Treidler in Gedanken noch einmal die Namen Revue passieren, die er heute im Zusammenhang mit dem Mordfall gehört hatte.
Friedrich Merkle war ein Soldat aus Florheim gewesen. Kurz vor Kriegsende war er von der Gestapo erhängt worden. Dann Manfred Kopfler und Egon Barreis, die bald darauf unter mysteriösen Umständen in Florheim Opfer von Morden geworden waren. Schließlich der Vierte im Bunde: Johann Novak. Er starb vermutlich auf die gleiche Weise, allerdings mehr als sechs Jahrzehnte später. Läge zwischen den Morden nicht eine halbe Ewigkeit, so würde Treidler einiges darauf wetten, dass es sich um ein- und denselben Mörder handelte. Doch nach all der Zeit kam
Weitere Kostenlose Bücher