Schwarzer Neckar
bin sicher, dass auch Sie uns weiterhelfen können.«
»Ich habe Sie schon einmal gesehen. Waren Sie eine seiner Schülerinnen? Sie sprechen keinen Dialekt. Mein Mann sagt immer, dass nur die Menschen Erfolg haben, die eine anständige Aussprache pflegen.«
Melchior schüttelte lange den Kopf. Treidler konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie Mühe hatte, die richtigen Worte zu finden. Schließlich erklärte sie mit sanfter, fast trauriger Stimme: »Nein, Frau Broghammer, wir sind von der Polizei. Das ist mein Kollege, Hauptkommissar Treidler, und ich bin Hauptkommissarin Melchior.«
Die Miene der alten Frau verdüsterte sich schlagartig. »Polizei, sagten Sie?« Sie hielt sich kurz die Hand vor ihren Mund. »Ist in der Schule etwas vorgefallen? Wieder ein Fahrraddiebstahl?« Sie atmete erleichtert aus und fügte hinzu: »Es ist immer dasselbe …«
Es brauchte keine weiteren Worte mehr, um Edda Broghammers Verhalten zu verstehen. Noch nie war Treidler einem Menschen begegnet, bei dem sich eine Altersdemenz so ausgeprägt zeigte.
»Nein.« Melchior schüttelte abermals den Kopf. »Wir sind nicht wegen Ihrem Mann hier.«
»Warum denn dann?« Edda blickte irritiert zwischen den beiden Kommissaren hin und her.
»Man hat uns erzählt, dass Sie viel über Florheim wissen«, begann Treidler. »Wir würden gern ein wenig mehr erfahren.« Er suchte nach einer Reaktion auf dem Gesicht der alten Frau. Sie antwortete mit einem seligen Lächeln, das alles zwischen Unverständnis und Stolz bedeuten konnte.
»Welches Jahr?«, fragte sie.
Treidler war so überrascht von ihrer Reaktion, dass er einen Augenblick brauchte, um die Jahreszahl zu nennen. »1945.«
»1945«, wiederholte sie mit reglosem Gesichtsausdruck. »Der Winter war kalt. Extrem kalt sogar. Die Ernte im Jahr zuvor hatte schlechte Erträge gebracht, und die Vorräte im Dorf neigten sich schon Anfang Februar dem Ende zu. Viele Männer waren immer noch im Krieg und konnten weder bei der Saat noch Ernte dabei sein.« Sie klang jetzt beinahe wie ein Automat, der mit dem Nennen der Jahreszahl gestartet wurde und dann sein Programm abspulte. »Im März gab es Luftangriffe auf die Flak, oben auf der Zimmerner Höhe. Bis Mitte April haben ständig versprengte Landser aus dem Westen Florheim erreicht. Andere Soldaten mit Lastwagen haben sie aufgesammelt.«
Edda starrte einen Moment vor sich hin. »Bevor die abrückten, hat ihr Anführer gesagt, dass auf Befehl Himmlers bis zum letzten Blutstropfen gekämpft werden muss. Und alle männlichen Dorfbewohner, die man mit einer weißen Flagge erwischte, würden sofort erschossen.« Sie stockte ein weiteres Mal. Es hatte den Anschein, als ob sie gedanklich eine Seite umblätterte. »Einen Tag später, am 19. April, sind die Franzosen von Königsfeld über den Tannberg herunter ins Dorf gekommen. Zuerst haben wir uns gefreut, dass der Krieg vorbei war. Aber die fremden Soldaten haben auf alles und jeden geschossen. Erst Stunden später hat sich der Bürgermeister getraut, ein weißes Leintuch rauszuhängen, und dann hat auch das Schießen aufgehört …«
»Wir interessieren uns mehr für die Familie Novak aus dem Köhlerweg 8«, unterbrach Treidler ihren Redefluss.
Edda schluckte, fuhr dann aber im gleichen mechanischen Tonfall fort: »Novak, ja, die Familie kenne ich. Eines der Schicksale jener Zeit. Der Johann ist im Juli spurlos verschwunden. Im Dorf hat man sich erzählt, er wär von den Franzosen ins Lager nach Baden-Baden gebracht worden. Weil er ein Nazi sei und Verbindungen zur Gestapo gehabt haben soll. Ein halbes Jahr später sind seine Eltern nach Baden-Baden gefahren, um ihn dort zu suchen. Beide sind bei einem Verkehrsunfall gestorben. Der Postbus, der sie zum Lager bringen sollte, hatte einen Reifenplatzer und ist oberhalb von Oppenau eine Klippe hinuntergestürzt.«
»Sie sagten, eines der Schicksale. Und die anderen?«, erkundigte sich Melchior.
»Kurz zuvor hat es schon zwei Tote bei uns im Dorf gegeben. Beides junge Kerle, so um die zwanzig. Damals haben alle geglaubt, dass die Franzosen damit zu tun hätten.«
»Haben Sie das auch geglaubt?«
Edda schüttelte den Kopf. »Und mein Schwiegervater hat es ebenfalls nicht geglaubt. Auch er war Lehrer in Rottweil und der Einzige, der im Dorf Französisch gesprochen hat. Die Eltern der Toten haben ihn gebeten, der Sûreté einen Brief zu schreiben. Tage später suchte er den französischen Kommandanten sogar im Nebenzimmer des ›Löwen‹ auf.
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