Schwarzer Neckar
letzten Begegnung aufgefallen war: »Er ist nämlich noch bei der Arbeit.«
Treidler stutzte. Er wusste vom Löwenwirt und ihren eigenen Nachforschungen, dass Edda Broghammers Mann seit Mitte der siebziger Jahre nicht mehr lebte. Er war für einen Moment sprachlos.
»Das macht nichts, Frau Broghammer. Dürfen wir trotzdem reinkommen?«, sagte Melchior.
Vielleicht war es doch nicht so schlecht, eine Kollegin dabeizuhaben.
Eddas Augen zuckten nervös hin und her. »Nein«, gab sie zurück. »Ich kann Sie leider nicht hereinbitten. Mein Mann mag es nicht, wenn überraschend Besuch kommt.«
»Sie haben gerade gesagt, dass er noch bei der Arbeit ist«, bemerkte Treidler.
Edda legte ihre Stirn in Falten. Nach kurzem Überlegen nickte sie und machte eine einladende Handbewegung. »Na gut. Aber nur für ein paar Minuten. Übermorgen ist Heiligabend, und ich muss noch viel vorbereiten.«
»Danke.« Treidler trat über die Türschwelle und fand sich im offenbar einzigen Raum des Erdgeschosses wieder. Es gab keinen Flur und keine anderen Türen. Lediglich rechts von ihm führte eine schmale Treppe in das Dachgeschoss. Den größten Platz im Zimmer nahm ein mächtiges Bücherregal ein. Es teilte den Raum etwa in der Mitte, wobei die linke Seite mit der Küchenzeile zusätzlich als Esszimmer und der andere Teil als Wohnzimmer diente. Er machte einen Schritt auf das Regal zu, damit Melchior ebenfalls Platz fand, um einzutreten. Der dunkle Mosaikparkettboden knarrte unter seinen Füßen, und eine Mischung aus Kohlgeruch und Zwiebeldünsten stieg ihm in die Nase.
Sofort fiel Treidler die strenge Genauigkeit auf, mit der die wenigen Möbelstücke arrangiert worden waren. Sogar die Stühle im Esszimmer standen parallel zur Kante des Tisches, der liebevoll für zwei Personen eingedeckt war. Doch nicht nur die Inneneinrichtung präsentierte sich wie auf einem Reißbrett, auch die Dekoration und die Bilderrahmen an der Wand schienen millimetergenau vermessen. Sein Blick blieb am größten der Bilder, einem Hochzeitsfoto in Schwarz-Weiß hängen, das fraglos aus den fünfziger Jahren stammte. Ein ovales Passepartout umrahmte eine strahlende Frau Anfang dreißig mit einem Blumenstrauß in der Hand, die sich an die Schulter eines viel größeren, streng dreinblickenden Mannes mit Hornbrille und Pomadenfrisur schmiegte. Um dieses Bild herum, das wie eine Art Altar das Zentrum der Wohnzimmerwand bildete, hingen weitere Fotos. Zum Teil schon in Farbe zeigten sie das gleiche Paar beim Wandern oder bei Ausflügen, meist neben einem hellen Ford Taunus mit Weißwandreifen. Die Ähnlichkeit von Edda Broghammer mit der jungen Frau auf den Bildern war spätestens auf den Farbfotos nicht zu übersehen. Neuere Fotos, die sie im Alter zeigten, gab es nicht.
In den Bücherregalen mussten wohl Hunderte Bücher stehen, und alle hatten eines gemeinsam: Obwohl sie akkurat aufgerichtet im Regal ruhten, boten sie ein beklagenswertes Bild. Sie sahen aus wie Bestseller, die seit Jahren in der Stadtbücherei durch Dutzende Hände gewandert waren. Treidler überflog die Titel. Größtenteils handelte es sich um Reiseberichte aus Südeuropa, meist Italien, aber auch aus Asien und Amerika. Manche davon gab es gleich zweimal: als deutsche und als fremdsprachige Ausgabe.
»Wissen Sie, mein Mann und ich haben selten Besuch. Wir sind gern allein«, erklärte Edda.
Treidler deutete mit dem Kinn zum Bücherregal. »Waren Sie dort überall?«
»Wie bitte? Sie müssen etwas lauter reden.« Edda lächelte unsicher. »Ich höre in letzter Zeit etwas schlecht. Man wird älter …«
»Waren Sie dort schon überall?«, wiederholte Treidler lauter.
»Nein, dazu fehlt meinem Mann das Geld. Er ist Studienrat in Rottweil.« Sie blickte rasch um sich. »Aber sobald er Oberstudienrat ist, werden wir uns wohl das eine oder andere leisten können.« Ihre Stimme hatte einen verschwörerischen Tonfall angenommen.
Treidler nickte.
Edda hielt sich ihre Brille vor die Augen, um einen flüchtigen Blick auf die wuchtige Standuhr aus Nussbaum zu werfen, die einen guten Teil der gegenüberliegenden Wand einnahm. »Es ist schon fast halb eins. Er müsste bald kommen. Ich würde Ihnen gern drüben am Esszimmertisch einen Tee anbieten. Doch ich habe bereits für das Mittagessen gedeckt. Aber wenn Sie wollen, können Sie später wiederkommen, sobald er da ist. Sie müssen wissen, er mag keine Überraschungen.«
»Das wird nicht nötig sein, Frau Broghammer«, sagte Melchior. »Ich
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