Schwarzer Regen
jegliche Selbstachtung genommen hatte.
Von Anfang an war klar, dass der tödliche Schuss keine Notwehr gewesen sein konnte. Am Ende hatte er noch Glück gehabt und war mit einer Bewährungsstrafe wegen minderschweren Totschlags davongekommen. Eine Reaktion im Affekt aufgrund des extremen emotionalen Stresses hatte man ihm zugestanden, weil er den Täter buchstäblich mit heruntergelassenen Hosen erwischt hatte, ein weinendes, gefesseltes Mädchen neben sich.
Lennard erinnerte sich genau an das Gefühl gerechten Zorns, das ihn damals durchströmt hatte. An die Gewissheit, dass das menschliche Monster vor ihm irgendwie davonkommen, sich dank gerissener Anwälte aus den Schlingen der Justiz befreien würde. Vielleicht musste er für ein paar Jahre ins Gefängnis oder in eine psychiatrische Anstalt, aber er würde früher oder später freikommen, während seine Opfer, sofern sie noch lebten, für immer seelisch verstümmelt waren. Und er würde es wieder tun.
All das hatte Lennard gewusst, als der Mann sich zu ihm umdrehte und ihn angrinste, so sicher, wie man weiß, dass ein tollwütiger Hund wieder beißen wird. Er war sich sicher gewesen, das einzig Richtige zu tun. Ganz ruhig hatte er die Pistole angelegt und ohne Warnung abgedrückt.
|383| Auch jetzt wusste er, dass Benz davonkommen würde. Er hatte die Unterlagen, die ihn überführen konnten, beiseitegeschafft, sie vermutlich sogar vernichtet. Es gab keine Beweise mehr, keine Möglichkeit, Bens Mörder zu überführen. Wenn Lennard jetzt nicht handelte, würde der Tod seines Sohnes für immer ungesühnt bleiben.
Doch diesmal war kein kleines Mädchen da, das er retten musste. Den hunderttausend Opfern von Karlsruhe konnte er nicht mehr helfen. Es gab nur einen Grund, Benz zu töten: Rache.
Der Milliardär schien zu spüren, was in Lennard vorging. Das Lächeln verflog. Seine Augen weiteten sich leicht vor Angst. Auf seiner Oberlippe erschienen winzige Schweißperlen. Er hob langsam die Hände. »Bitte, glauben Sie mir! Ich habe nichts mit dem Tod Ihres Sohnes zu tun!«
Lennard zögerte immer noch. Etwas lähmte ihn. Er wollte den Finger krümmen, den Abzug betätigen, doch er konnte es nicht. Tränen verschleierten ihm die Sicht. Er versuchte, sich daran zu erinnern, wie er Ben in den Armen gehalten hatte, wie das Leben aus seinem jungen Körper gewichen war. Doch stattdessen sah er nur Fabiennes Gesicht, ihre liebevollen, besorgten Augen: Pass auf dich auf!
Er ließ die Waffe sinken.
Der Milliardär atmete hörbar aus. »Bitte, gehen Sie jetzt. Ich werde der Polizei nichts sagen!«
Lennard nickte. Doch in diesem Moment flog die Tür auf. Pawlow richtete seine Pistole auf Lennards Kopf. »Waffe fallenlassen!«, brüllte er.
Lennard gehorchte. Er empfand nicht einmal Schrecken bei der Vorstellung, dass er jetzt sterben würde. Vielleicht gab es ja doch einen Ort jenseits des Todes, an dem er Ben wiedertreffen konnte.
»Pawlow, Gott sei Dank!«, rief Benz. »Wo waren Sie die ganze Zeit?«
|384| Bevor Pawlow antworten konnte, erschien eine weitere Person hinter ihm.
»Eva!«, keuchte Lennard verwirrt. »Wieso … bist du hier?«
»Du … du kennst diesen Typ?«, fragte Benz.
Ein trauriges Lächeln erschien auf Evas Gesicht. Sie trug ein schwarzes Kleid und lange schwarze Handschuhe, so als habe sie sich für ein elegantes Fest zurechtgemacht – oder für eine Beerdigung. »Du hättest es tun sollen, Lennard«, sagte sie mit Bedauern in der Stimme.
»Er hätte was tun sollen?«, fragte Benz, sichtlich verwirrt.
Sie bückte sich, um Lennards Waffe aufzuheben. Der Duft ihres teuren Parfüms stieg ihm in die Nase.
»Das«, sagte sie, nahm den Arm hoch und schoss.
Grenzenlose Verblüffung spiegelte sich in Heiner Benz’ Gesicht, während ein roter Fleck die Brust seines makellos weißen Hemdes färbte wie eine plötzlich aufblühende Rose. Mit weit aufgerissenen Augen sank er zu Boden.
|385| 74.
Lennard starrte fassungslos auf die Szene. Benz’ leblose Augen schienen in ungläubigem Staunen zu verharren. Pawlow hielt mit grimmiger Entschlossenheit seine Waffe auf Lennard gerichtet und ließ keinen Zweifel daran, dass er sie auch benutzen würde. Eva legte die Pistole wieder auf den Boden, zog sich in aller Ruhe die Handschuhe aus und verstaute sie in ihrer Handtasche. Sie nahm das Telefon vom Schreibtisch und rief die Polizei an. »Bitte, Sie müssen schnell kommen! Mein Mann, er ist erschossen worden!« Ihre Stimme klang verzweifelt, geradezu
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