Schwarzer Regen
es länger hinauszuzögern. Er griff nach dem scharfen Küchenmesser, das er bereitgelegt hatte. Er betrachtete es einen Augenblick, dann umfasste er den Griff mit beiden Händen und setzte die Spitze über der Bauchhöhle, unterhalb der Rippen, an. Er hatte gelesen, dass man, wenn man von dort kräftig schräg nach oben stieß, mit einem schnellen Stich das Herz durchbohren konnte.
Er schloss die Augen und stieß zu.
Im nächsten Moment sprang er auf und ließ das Messer fallen. Verdammt, tat das weh! Die Klinge war nur einen Zentimeter tief eingedrungen, trotzdem brannte seine Brust wie Feuer. Langen lief in die Küche und holte sich mangels eines Verbands ein Küchentuch, das er auf die stark blutende Wunde presste.
Wenn er sich krümmte, wurde der Schmerz unerträglich, also setzte er sich nicht wieder hin, sondern blieb stehen. Angewidert betrachtete er das Messer. Hätte Nostradamus nicht einen angenehmeren Tod für ihn prophezeien können? Schlaftabletten zum Beispiel? Okay, die gab es im 16. Jahrhundert noch nicht, aber Gift oder wenigstens durchtrennte Pulsadern hätten es doch sein können! Aber nein, da stand eindeutig »ersticht sich und stirbt«.
Verdammt! Wenn er nur nicht so ein jämmerliches Weichei wäre! Aber er war schon immer wehleidig gewesen. Das hatte jedenfalls seine Mutter behauptet. Er überlegte, |375| ob es schlimm wäre, wenn er ein ganz kleines bisschen von Nostradamus’ Prophezeiung abwich. Schließlich würde es doch ohnehin keinen Unterschied machen, wenn bald die ganze Welt …
Der Gedanke durchzuckte ihn so klar und grell, als sähe er den Blitz der Atombombe vor seinem geistigen Auge. Es machte sehr wohl einen Unterschied! Und was für einen Unterschied es machte!
Die Schmerzen in seiner Brust waren plötzlich vergessen, als er sich der ungeheuren Bedeutung seiner Erkenntnis klar wurde: Wenn er sich nicht an die Prophezeiung hielt, dann hatte Nostradamus unrecht. Und wenn Nostradamus unrecht hatte, selbst wenn es nur das kleinste Detail betraf …
Ihm wurde schwindlig. Er stolperte in die Küche und trank einen Schluck Wasser.
Es lag in seiner Macht. Er hielt den Schlüssel zum Schicksal der Welt in den Händen. Indem er sich nicht an die Prophezeiung des großen Sehers hielt, konnte er den Lauf der Geschichte ändern! Er allein, Friedhelm Langen, der »als Einziger zu sehen verstand«, konnte, indem er sich
nicht
erstach, den Dritten Weltkrieg verhindern!
Er warf den Kopf in den Nacken und lachte schallend.
|376| 73.
Lennard fummelte an Evas Schlüsselbund herum, bis er den passenden Schlüssel für das Gittertor gefunden hatte, das den Eingang zum Grundstück sicherte. Während er sich der stattlichen Villa näherte, behielt er die Fenster im Blick, doch er konnte keine verräterische Bewegung erkennen.
Statt einfach die Eingangstür zu öffnen, umrundete er das Haus und spähte in die Fenster. Niemand schien zu Hause zu sein. Auf der linken Seite entdeckte er Benz’ Arbeitszimmer. Wie auch die übrigen Räume des Hauses, war es leer. Falls doch jemand da war, wusste er vermutlich bereits, dass Lennard hier stand, und hatte sich auf die Lauer gelegt. Dieses Risiko musste er eingehen.
Die stattliche Eingangstür besaß ein gewöhnliches Sicherheitsschloss und ein zweites elektronisches für die Alarmanlage. Eine blinkende Diode zeigte, dass sie scharfgeschaltet war. Lennard drückte den Knopf auf dem runden elektronischen Schlüssel, der an Evas Bund befestigt war. Mit einem Piepen öffnete sich der Mechanismus, und die Leuchtdiode hörte auf zu blinken.
Er holte die Pistole hervor und öffnete die Tür. Im Haus herrschte Stille. Nur das Ticken einer Standuhr in der Eingangshalle empfing ihn.
Er schloss die Tür und ging leise durch die Halle. Die alten Holzbohlen knarzten. Er hielt inne und lauschte, doch nichts deutete darauf hin, dass noch jemand im Haus war.
Er öffnete die Tür zu Benz’ Arbeitszimmer und spähte hinein. Auch in den toten Winkeln, die er durch das Fenster nicht hatte sehen können, verbarg sich niemand.
|377| Das Zimmer wurde von einem riesigen antiken Schreibtisch aus Tropenholz beherrscht. An den Wänden befanden sich Bücherregale, die mit ledernen Bänden sowie Büchern über Management, Programmiersprachen und das Internet gefüllt waren. Die Wand neben der Tür dominierte ein großes abstraktes Gemälde. Ein kleineres Bild an der rechten Wand zeigte einen streng dreinblickenden Herrn mit schwarzem Hut und Rüschenkragen – irgendein
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