Schwarzer Regen
einzigen Worte, die die anderen Hausbewohner von ihm zu hören bekamen. Seine Stimme war dabei klar und deutlich wie die eines Nachrichtensprechers, ohne jegliches Zittern, doch seine Augen waren leer wie ausgetrocknete Teiche. Warum er sich nicht schon längst umgebracht hatte, wusste Lennard nicht.
Fabienne Bergers lächelndes Gesicht war der Kontrapunkt zu Herders Verzweiflung. Es tauchte auf mindestens einem Dutzend Bildern auf. Auf einem davon stand sie neben ihrer Freundin bei einer spontanen Grillparty auf dem Rasen, in der Hand einen Plastikbecher mit Rotwein. Lennard erinnerte sich, dass es eine Menge Ärger mit der Hausverwaltung gegeben hatte, weil irgendein Betrunkener den Grill umgekippt und die Kohle einen hässlichen schwarzen Brandfleck auf dem Rasen hinterlassen hatte. |24| Auf einem anderen, wegen der Entfernung etwas unscharfen Foto warf sie ihren Sohn, damals drei Jahre alt, in die Luft. Das musste gewesen sein, kurz nachdem ihr Mann sie verlassen hatte. Trotzdem wirkte sie auf dem Bild ausgelassen, unbeschwert. Es war eines seiner Lieblingsfotos. Es erinnerte ihn daran, dass es bei aller Trübsal glückliche Momente im Leben gab. Momente, in denen man vergaß.
Sein Blick blieb an einem schlaksigen Mann Mitte dreißig mit langem, fettigem Haar hängen. Lennard hatte ihn im Verdacht, mit Drogen zu handeln, doch er war ihm noch nicht auf die Schliche gekommen.
Dann war da dieser Junge, Jonas Dinkel. Er musste etwa Bens Alter haben. Er tauchte auf zwei Fotos auf: einmal als Elfjähriger mit langen Haaren, wie er mit ein paar Freunden auf der Grünfläche Fußball spielte; ein zweites Mal vor etwa einem Monat, als er mit einer Gruppe von Glatzköpfen in Springerstiefeln eine junge dunkelhäutige Frau mit Kinderwagen anpöbelte, eine zerbeulte Bierdose in der Hand.
Von Ben hing kein Bild an der Wand, ebenso wenig wie von Martina. Sie hätten in die Kamera geblickt, gelächelt – vor dem Weihnachtsbaum, am Strand, beim Spaziergang in den Alpen. Es hätte zu weh getan.
Er senkte den Blick auf das blasse Glühen seines Laptops. Das Gespräch der beiden jungen Frauen hatte etwas in ihm ausgelöst. Eine Erinnerung, schwach und schemenhaft, irgendwo tief in seinem Gedächtnis vergraben. Er hatte sie nur flüchtig wahrgenommen, wie eine Bewegung am Rand des Blickfelds. Doch je mehr er darüber nachdachte, je gezielter er danach suchte, desto weiter schien sich der Gedanke zu entfernen. Er wusste nur, dass er irgendwann etwas gesehen hatte, etwas Wichtiges.
Die Fotos auf seiner Festplatte waren chronologisch abgelegt, für jeden Monat ein Verzeichnis. Daneben gab es auch Ordner für einzelne Personen, in denen er Kopien der |25| Bilder ablegte. Insgesamt befanden sich mehr als siebentausend Fotos auf seinem Laptop und ein Mehrfaches davon auf den Archiv-DVDs in der Schreibtischschublade.
Er ging unsystematisch vor, sprang in der Zeit vor und zurück, klickte wahllos auf die Miniaturansichten der Bilder, um sie einen Moment bildschirmfüllend zu betrachten und kurz darauf das Fenster in die Vergangenheit wieder zu schließen. Er hoffte, auf diese Weise die flüchtige Erinnerung aus den Tiefen seines Gedächtnisses hervorlocken zu können, wo sie sich wie ein scheues Tier verborgen hielt.
Er war so vertieft in seine Arbeit, dass er zusammenzuckte, als es an der Tür klingelte.
|26| 2.
Das gewaltige Säulenportal der Villa wirkte einschüchternd. Vor über hundert Jahren hatte sie ein Hamburger Reeder bauen lassen, der mit dem Import von Kaffee, Tabak und Gewürzen ein Vermögen gemacht hatte. Der Zweck dieses Hauses war es von Anfang an gewesen, Normalsterblichen vor Augen zu führen, wie klein und unbedeutend sie gegenüber seinem Besitzer waren.
Doch die Zeiten hatten sich geändert. Die Schönen und Reichen waren alles andere als bessere Menschen – niemand wusste das so genau wie Corinna Faller. Sie war hier, um einen Blick hinter die Fassade zu werfen, und sie war sicher, dass sie auch diesmal etwas finden würde, irgendein Stück Schmutz, auf das sich ihre Leser stürzen würden wie die Fliegen auf Hundekot. Nichts liebten die Käufer des Wochenmagazins
Rasant
mehr, als mit anzusehen, wie ein gefeierter Promi von seinem Sockel gestürzt wurde.
Sie warf einen kurzen Blick zu Andreas, dem Fotografen, wie um sich zu vergewissern, dass er bereit war für einen erneuten Angriff auf die Privatsphäre reicher Schnösel. Dann klingelte sie. Ein tiefer, melodischer Gong erklang – ein echter aus
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